1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Massaker an Schiiten: Verschont Nigeria die Täter?

Philipp Sandner28. April 2016

Hunderte Schiiten wurden vergangenen Dezember von nigerianischen Militärs ermordet. Doch die mutmaßlichen Täter werden kaum zur Verantwortung gezogen. Stattdessen stehen nun die Opfer vor Gericht.

https://p.dw.com/p/1IetH
Nigeria Afrika Soldat steht in einem Türrahmen eines zerstörten Gebäudes
Bild: Getty Images/S.Heunis

Muhammed Musa hat die Leichen gezählt. "Genau 347" seien es gewesen, sagt er im Gespräch mit der DW. Er arbeitet für das Interfaith Mediation Center. Nach dem Massaker, das Soldaten in der nordnigerianischen Stadt Zaria vom 12. bis zum 14. Dezember 2015 an Schiiten verübten, sei er an den Ort des Geschehens gerufen worden: "Ich habe einen Major getroffen, der mir diese Leichen auf drei Lastwagen zeigte. Er selbst wusste die Zahl nicht." Die Leichen sollen dann über Nacht in einem Massengrab verscharrt worden sein.

Die Stadt Zaria im Bundesstaat Kaduna ist eine Pilgerstadt für schiitische Muslime aus ganz Westafrika. Die Schiiten machen in dieser Region nur einen kleinen Teil aus; die Mehrheit sind Sunniten.

DW-Karte: Nigeria mit Zaria im Bundesstaat Kaduna

Vorausgegangen war eine Auseinandersetzung der schiitischen Gruppe "Islamische Bewegung in Nigeria" (IMN) mit den örtlichen Sicherheitskräften. Anhänger der Bewegung hatten einen Militärkonvoi in einer Straßenblockade festgehalten. Die Armee erklärte später, die Aufständischen hätten versucht, einen ranghohen Militär zu ermorden. Die Schiiten weisen die Anschuldigung von sich, Menschenrechtler halten sie für schwer zu glauben.

Ein Hügel aus Leichen

Amnesty International hat nun einen Bericht vorgelegt, der das grausame Vorgehen der Soldaten enthüllt. Die Verletzten seien vor Ort exekutiert oder lebendig verbrannt worden, schreibt die Menschenrechtsorganisation und stützt sich auf zahlreiche Zeugenaussagen. "Von Weitem sah ich einen großen Hügel", sagte ein Zeuge den Menschenrechtlern, "aber als ich näher kam, sah ich, dass es ein riesiger Leichenhaufen war." Nach dem Massaker habe das Militär die Schauplätze abgeriegelt und systematisch Spuren beseitigt. Sie hätten Blut abgewaschen und Patronenhülsen aufgesammelt - so schreibt es Amnesty International in dem Bericht.

Und das Ausmaß des Blutvergießens scheint noch größer zu sein, als es die gesicherten Zahlen erahnen lassen. "Von weiteren 350 Menschen, die bei den Vorfällen anwesend waren, fehlt jede Spur", sagt Donatella Rivera, die Krisenbeauftragte von Amnesty International, der DW. "Ihre Familien haben sie weder in Krankenhäusern noch in Gefängnissen finden können. Es ist zu fürchten, dass auch sie getötet und in unbekannten Massengräbern beigesetzt wurden."

Schiiten trauern um ermorderte Glaubensbrüder: Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Prozession in der Region Potiskum kamen im November 2014 15 Menschen ums Leben (Archivbild), Copyright: Getty Images/AFP
Schiiten trauern um ermorderte Glaubensbrüder: Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Prozession in der Region Potiskum kamen im November 2014 15 Menschen ums Leben (Archivbild)Bild: Getty Images/AFP

Opfer auf der Anklagebank

Seit Montag werden nun nigerianische Militärs vor einer Untersuchungskommission in Kaduna angehört. Kaduna ist die Hauptstadt des gleichnamigen nordnigerianischen Bundesstaats, in dem sich die Massaker ereigneten. Die Kommission hat sechs Wochen Zeit, um einen Bericht vorzulegen. Der Sprecher des nigerianischen Militärs nannte den Bericht von Amnesty International "verfrüht" und drängte darauf, die Ergebnisse der Kommission abzuwarten. Doch Menschenrechtler zweifeln daran, dass die Untersuchungskommission die Täter zur Rechenschaft ziehen wird. Sie sei nicht paritätisch besetzt, sagt Chidi Odinkalu von der Open Society Justice Initiative. Odinkalu ist der ehemalige Leiter der nationalen Menschenrechtskommission in Nigeria.

Auch der Menschenrechtler Nasiru Abbas aus Kaduna ist empört: Gerade habe der Bundesstaat Kaduna Anklage gegen 50 Schiiten erhoben im Zusammenhang mit dem Tod eines Soldaten. Ihnen drohe die Todesstrafe. Dabei sind die Schiiten selbst immer wieder Opfer von Gewalt und Verfolgung "Wie kann eine Regierung, die sich als Beschützer des Volkes versteht, 50 Menschen zu Tode verurteilen?" Im Lichte der laufenden Untersuchungen sei diese Anklage unzeitlich und unangemessen. "Ein Todesurteil über 50 Menschen ist kein Witz!" Der Ausgang ist offen; der Prozess wurde zunächst auf Mai vertagt.

Aufstände von Schiiten: "Kein Staat kann so etwas dulden"

General Adeniyi Oyebade war als Befehlshaber für das Eingreifen der Armee in Zaria verantwortlich. Bei den Anhörungen vor der Untersuchungskommission in dieser Woche gab er sich zufrieden: Man habe dutzende Anhänger der schiitischen Bewegung festgesetzt, um ein Ausweiten ihrer Machenschaften zu verhindern. "Wir sahen hunderte IMN-Mitglieder, die offen mit allen Arten von Waffen, auch Pistolen, herumliefen." Diese Aussage widerspricht den Schilderungen der AI-Krisenbeauftragten Rivera, die der DW gegenüber von friedlichen, unbewaffneten Demonstrationen sprach.

Schiitische Muslime in Kano, Nordnigeria (Archivbild), Copyright: Abubakar/AFP/Getty Images
Immer wieder Opfer von Gewalt und Übergriffen: Schiitische Muslime in Kano, Nordnigeria (Archivbild)Bild: A. Abubakar/AFP/Getty Images

Abubakar Matazu leitet die juristische Fakultät der Universität von Katsina. Er ist der Ansicht, dass die Schiiten das Fass zum Überlaufen gebracht hätten: "Sie haben für eine lange Zeit das Gesetz in ihre Hand genommen. Sie operieren wie eine autonome Regierung innerhalb Nigerias. Kein Staat auf der Welt kann so etwas dulden." Allerdings neige die nigerianische Armee dazu, bei ihren Operationen überzureagieren, so Matazu weiter.

Militärverbrechen oft ungestraft

Es ist nicht das erste Mal, dass das nigerianische Militär wegen Menschenrechtsverletzungen am Pranger steht. Gerade im Kampf gegen die islamistische Terror-Miliz Boko Haram im Nordwesten des Landes haben sich nigerianische Soldaten immer wieder der Gewalt gegen unbewaffnete Bürger schuldig gemacht. Präsident Muhammadu Buhari, der seit einem Jahr im Amt ist, hatte es sich zum Ziel erklärt, die Armee zu disziplinieren und Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen. Doch von seinem Elan ist seit Amtsantritt wenig zu spüren gewesen.

Das gefährde auch den Kampf gegen Islamisten, sagt der nigerianische Analyst Kabiru Adamu: "Schon jetzt merken wir die Konsequenzen: Die Armee bekommt bei ihren Einsätzen wenig Unterstützung von der lokalen Bevölkerung." Wenn solche Grausamkeiten ungestraft blieben, verschlechtere das die Beziehungen zur Zivilbevölkerung. "Und keine militärische Strategie kann erfolgreich sein ohne die Zustimmung der lokalen Bevölkerung." Im Fall des Zaria-Massakers könnte es darauf hinauslaufen, dass Nigeria die Aufklärung aus den Händen gibt: Eine muslimische Lobbyorganisation aus Großbritannien hat den Fall bereits vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gebracht.

Mitarbeit: Fred Muvunyi, Ibrahima Yakubu