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Mehr Ängste als Hoffnungen

27. Februar 2004

- Tschechien vor dem EU-Beitritt

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Bonn, 27.2.2004, DW-RADIO, Vladimir Müller

Tschechien wird nach jahrelangen Verhandlungen zum 1. Mai zusammen mit weiteren neun Staaten Mitglied der Europäischen Union. Nicht nur ein Grund zur Freude, denn dieser historische Schritt weckt bei fast jedem zweiten Tschechen Befürchtungen. Informationen von Vladimir Müller.

Kurz vor dem Beitritt gab es in Prag noch ein absurdes Theater mit dramatischen Höhepunkten: Nach langem Hin und Her setzte Premier Vladimir Anfang Februar seinen Favoriten für das Amt des künftigen tschechischen EU-Kommissars durch. Der einstige Umweltminister Kuzvart wurde dann auch letzte Woche von Kommissionspräsident Romano Prodi empfangen. Doch zurück in Prag teilte Kuzvart der verdutzten Öffentlichkeit mit, er trete von dieser Prestige-Funktion noch vor dem eigentlich Antritt zurück. Premier Spidla fällt darauf im Parlament bei einer Rede in Ohmacht, wird ins Krankenhaus gefahren, es war nichts Ernstes.

Er hatte keine andere Wahl, kommentierte eine Prager Zeitung die "ohnmächtige" Reaktion des Regierungschefs. Es sei denn, er hätte den Kuzvart totgeschlagen. Denn tschechischen Medien zufolge hat der unglückliche Kommissar in spe erst bei seinen Gesprächen in Brüssel festgestellt, dass seine nur rudimentären Fremdsprachenkenntnisse bei seiner künftigen EU-Tätigkeit zu einer unüberwindbaren Barriere werden könnten.

"Ich denke, dass die tschechischen Politiker es noch nicht gelernt haben, wie man im internationalen Kontext arbeitet. Sie sehen die Posten in den europäischen Institutionen entweder als etwas Lukratives an oder als einen Ablege-Platz für unbequeme Politiker, die auf der heimischen Bühne Probleme bereiten könnten."

Eine recht ernüchternde Analyse von Jiri Pehe. Der Politologe gehörte in den 90er Jahren zum Berater-Team des damaligen Präsidenten Vaclav Havel. Zum neuen tschechischen EU-Kommissar wurde übrigens inzwischen der bisherige Chefunterhändler und allseits anerkannter EU-Fachmann Pavel Telicka ernannt.

Es wird nicht zuletzt auch an ihm liegen, ob die Tschechen ihre derzeitige Furcht vor dem Beitritt wieder los werden. Dabei war die Parole "Zurück nach Europa" eine der tragendsten während der "samtenen Revolution" 1989. Heute aber glaubt fast die Hälfte der Tschechen, dass ihr Leben nach dem EU-Beitritt schlechter werden

wird. Weitere Teuerungen und Angst vor Arbeitsplatzverlust sind die meist genannten Gründe. Preis-Steigerungen? Sicher, bestätigen die Prognosen wirtschaftlicher Institute.

"Der Gesamteffekt sollte jedoch den Verbraucherpreisindex um nicht mehr als einen Prozentpunkt steigen lassen", so zum Beispiel das Fazit der Bank Austria. Trotz ernster Probleme jedoch - Korruption und Defizite im Rechtssystem sind nur zwei Beispiele - trotz begründeter Ängste weist Tschechien ein über drei Prozent hohes Wirtschaftwachstum auf; der Durchschnitt der Eurozone ist etwa zehn Mal niedriger. Und obwohl die Tschechische Republik nur etwa 62 Prozent der Wirtschaftskraft des

EU-Durchschnitts aufweist, wird oft vergessen, dass einige alte EU-Mitgliedsländer auch nach über 20 Jahren unter dem EU-Durchschnitt liegen. Ist also die Angst der Tschechen vor der EU irrational?

"Es ist eine Angst vor dem Unbekannten. Viele Menschen können sich nur in den eigenen tschechischen Verhältnissen orientieren und sich mit dieser bekannten Umgebung auseinandersetzen. Sie fürchten aber den neuen Kontext, der für sie unbekannt ist und komplex, und mit dem sie keine Erfahrungen haben."

Die junge Generation in Tschechien sei da aber schon anders, betont Jiri Pehe, die hat schon ihre ganz eigenen Erfahrungen mit Europa gemacht. Viele junge Tschechen nutzen bereits seit vielen Jahren die Freiheit zu reisen, im Ausland zu studieren oder auch zu arbeiten. Vor allem während der Ferien und meistens auf eine bestimmte Zeit begrenzt.

Daran wird sich auch nach dem 1. Mai nichts ändern. Praktisch alle alten EU-Länder - Ausnahme ist nur Irland - haben bereits Maßnahmen ergriffen, um neue Mitbürger aus Mittel- und Osteuropa von ihren Arbeitsmärkten fernzuhalten. Es geht vor allem um ein bis zu sieben Jahren währendes Arbeitsverbot - Ausnahmen sind allerdings erlaubt.

Eine überflüssige Angst - diesmal westlicherseits - behaupten die Tschechen. Höchstens 30.000 von einem Zehn-Millionen-Volk würden sich die Mühe machen, in Westeuropa nach Arbeit zu suchen. Und die meisten von ihnen ohnehin nur als Pendler in grenznahen Gebieten. Hinzu kommt, was man aus den neuen Bundesländern in Ostdeutschland hört: dass dort nämlich vielerorts Arbeitskräftemangel herrsche - viele, vor allem junge Ostdeutsche, sind in die alten Bundesländer gezogen. Qualifizierte Arbeitskräfte aus Polen und Tschechien seien willkommen.

Für den Beitritt stimmten in einem Referendum im vergangenen Jahr 77 Prozent der tschechischen Wähler - eine überzeugende Mehrheit. Die Bedeutung dieser Zahl steigt angesichts der Tatsache, dass Präsident Vaclav Klaus - seit einem Jahr im Amt - ein erklärter Gegner der europäischen Integration ist. Die hohe Anzahl der Ja-Stimmen lässt auch annehmen, dass die aktuellen EU-Ängste nur eine vorübergehende Erscheinung sind.

Übrigens können sowohl die Tschechen als auch andere künftige EU-Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa ihren eigenen Beitrag zur Union nicht nur in Form billiger Arbeitskraft leisten:

"Es wird ein psychologischer, oder - wenn Sie so wollen - ein politischer Beitrag. Diese neuen EU-Länder - das hat sich auch beim Irak-Krieg gezeigt - haben eine klarere Sicht, wenn es um Fragen geht wie 'Wie soll sich Europa verhalten gegenüber diktatorischen und totalitären Regimen?' Westeuropa scheint etwas müde zu sein, was diese Dinge angeht. Aber Osteuropa - das sich noch allzu gut erinnern kann - wird korrigierend die europäische öffentliche Meinung beeinflussen können." (fp)