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Mehr erweitern, weniger vertiefen

Alexander Kudascheff10. März 2004

Es ist eine fast unmerkliche, aber eine dramatische Neubestimmung der deutschen EU-Politik: Der deutsche Außenminister Joschka Fischer ist von der Vision der Vereinigten Staaten von Europa abgerückt.

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Bundesaußenminister Fischer hat sich ohne viel Aufhebens von der Idee verabschiedet, Europas Einigung könne - "nur" - vorangetrieben werden, wenn eine kleine Gruppe von Staaten, also ein Kerneuropa oder eine europäische Avantgarde, sich zusammenschließe, um den anderen EU-Partnern den Rhythmus und die Geschwindigkeit vorzugeben. Niemand verstand dieses Kerneuropakonzept als ein Diktat der "großen Zwei" Deutschland und Frankreich, aber es wirkte so.

Zumindest die Kleinen und vor allem die Neuen hatten ihre Probleme damit: Sie mussten den Eindruck gewinnen, dass das heilige Prinzip der EU - "alle Staaten sind gleich" - auf dem Altar europäischer Visionen geopfert würde. Davon ist, wie gesagt, inzwischen keine Rede mehr. Noch vor wenigen Jahren war dem deutschen Außenminister etwas ganz anderes wichtig: Die "Finalität" der EU sei ein Europa, das sich immer mehr zu einem Bundesstaat verdichte, das immer mehr nationale Souveränitätsrechte aufgebe zugunsten eines demokratisch legitimierten Europas. So wird es wohl nicht werden.

Fischers fixe Idee

Der historischen und der pragmatischen Seite der EU gewinnt Fischer eine zusätzliche strategische Perspektive ab. Strategische Dimension heißt: Die EU ist ein geopolitischer Machtfaktor, auf dessen Wirken und auf dessen Wirksamkeit es ankommt. Deswegen müsse sich die EU erweitern, nicht nur um die zehn Länder, die am 1. Mai 2004 beitreten, nicht nur um Rumänien und Bulgarien, die 2007 beitreten sollen, auch nicht nur um die Staaten des Balkans, allen voran Kroatien. Sondern auch um die Türkei. Der Beitritt des säkularen, demokratisch-islamischen Landes sei eine strategische Option der EU. Damit werde sie ihrem Anspruch gerecht, auch im Dauerkrisenherd Nahost erfolgreich außenpolitisch zu wirken.

Europa verändert sich

Ganz unabhängig von den innenpolitischen Implikationen eines Beitritts liegt es offenbar im strategischen Interesse der EU, einen demokratischen islamischen Staat zu unterstützen: auch als Vorbild für die wenig demokratischen Ländern sonst im Nahen und Mittleren Osten. Europa, so muss man schlussfolgern, greift damit ebenso wie die USA den Traum einer weiter gefassten Nahost-Strategie auf. "The wider Middle East": hier will die EU eingreifen. Dafür braucht sie als strategischen Pfeiler die Türkei. Die Folge: Die Vertiefung der EU ist weniger wichtig als die Erweiterung.

Das ist eine Umkehr der bisherigen Position. Setzen sich diese Überlegungen durch, dann steht am Ende eines Prozesses eine andere EU - mit anderen Perspektiven und mit anderen Ambitionen. Vielleicht braucht sie dann nicht einmal eine Verfassung, weil sie zugleich Freihandelszone und ambitioniertes Projekt mit gemeinsamer Außen- und wahrscheinlich Verteidigungspolitik wäre. Europa würde "englischer". Das kommt den Neuen wahrscheinlich sogar entgegen.