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Mehr Freiheit für türkische Frauen

6. Dezember 2001

In der Türkei sind die Zeiten bald vorbei, in denen der Mann allein das Sagen in der Familie hat. Kürzlich wurde ein neues Zivilrecht verabschiedet, das mit Beginn des kommenden Jahres in Kraft treten soll.

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Neues Zivilrecht räumt Frauen mehr Rechte einBild: AP

Nach den neuen Bestimmungen muss eine Ehefrau beispielsweise nicht länger ihren Mann um Erlaubnis bitten, wenn sie arbeiten gehen will. Der Mann darf auch nicht mehr allein bestimmen, wo das Paar wohnt oder in welche Schule die Kinder gehen sollen. Mit anderen Worten: In der Türkei werden den Frauen in Zukunft die selben Rechte eingeräumt, wie sie seit langem in Europa gelten. Nur: Wie wird es in der Praxis aussehen? Viele türkische Frauen glauben, dass sich das Gesetz nur in den Städten durchsetzen wird. Die Leute auf dem Lande werden ihm kaum Bedeutung beimessen.

Diskrepanz zwischen Stadt und Land

So ist es wohl. Die Metropole Istanbul gibt sich schon heute modern und offen: Tausende leben in wilder Ehe, Homosexuelle halten Händchen auf den Straßen, in den Bars treffen trifft man auf Transvestiten - über sie verliert das neue Gesetz übrigens kein Wort. Istanbuls Szene lebt längst wie sie will.

In türkischen Dörfern ist die Situation eine andere. Da treten die jungen Frauen häufig nur verschleiert auf die Straße. Die türkische Väter dürfen ihre 15-, manchmal sogar 14jährigen Töchter noch verheiraten. Das neue Recht räumt damit auf: Heirat erst ab 18, wenn die Kinder volljährig sind. Dann kann auch der Vater seine Töchter nicht mehr zu einer Heirat zwingen. Vielleicht der in der Praxis wichtigste Punkt. Das Gesetzbuch nennt die Frau nun nicht mehr "Weib" und den Mann nicht mehr "Oberhaupt".

Am empfindlichsten getroffen fühlen sich die Männer am Geldbeutel. Nach einer Scheidung wird künftig nicht mehr alles automatisch ihm gehören, sondern es gilt das Zugewinnprinzip: fifty - fifty für alle in der gemeinsamen Zeit erworbenen Güter, vom Haus bis zum Auto. 125 Frauenorganisationen hatten sich dafür zu einer gemeinsamen Plattform zusammengeschlossen. Sie kämpfen dafür, dass dieses Recht auch rückwirkend gilt. Wie sensibel dieser Punkt ist, zeigten die zu 95 % männlichen Abgeordneten, als sie genau darüber abstimmen sollten: Die Herren hatten sich in die Parlamentskantine verdrückt, das Hohe Haus war beschlussunfähig; der Punkt bleibt vorerst ungeklärt.

Kommentare türkischer Frauen

Türkische Familie am Bosporus
Türkische Familie in IstanbulBild: AP

Aus westeuropäischer Perspektive hört sich all dies wie eine nachgeholte Revolution, eine überfällige Modernisierung an, und das ist es auch. Aus der Perspektive der islamischen Welt aber ist die Türkei Avantgarde. Schon vor 75 Jahren hat Atatürk die Vielehe abgeschafft, das Erbrecht modernisiert und die Scheidung durch schlichtes Verstoßen untersagt. Türkische Frauen durften schon wählen, da war es den Schweizer Frauen noch verboten, und was Deutschland noch vor sich hat: eine Frau als Regierungschefin, hat die Türkei mit Tansu Çiller schon probiert. Für eine moderne Istanbulerin bedeutet das neue Recht wenig, denn in ihrem Milieu wird längst so gelebt: "Mein Privatleben hatte nie was zu tun mit dem geschriebenen Recht. Nie hätte ich meinen Mann um Erlaubnis gefragt, um einen Job zu machen. So was hab ich schon immer als mein gutes Recht empfunden."

Aber nicht alle Türkinnen leben so. Melek Denli Karaca ist eine von knapp 5 % weiblichen parlamentarischen Abgeordneten. Sie gehört zur ultrakonservativen Partei MHP, und in diesen Kreisen muss man tief in die Pathos-Trickkiste greifen, um für das neue Recht zu sein: "Die türkische Frau hat in der türkischen Geschichte schon neben den Sultanen regiert; im Freiheitskrieg hat sie Munition geschleppt und Schulter an Schulter mit den Männern gekämpft. Heute ist sie mutige Pilotin unserer Kampfjets, und sie ist Mutter unsrer fürs Vaterland gefallenen Söhne - und: sie ist auch Mutter des großen Atatürk!"

Familienehre und Polygamie

Das alles mag sie sein, die türkische Frau, aber sie ist auch "gefallene Tochter". Etwa 200 Mädchen werden jährlich von der eigenen Familie ermordet: die Brüder, Väter, Onkel können nicht ertragen, dass die Familienehre beschmutzt wird, etwa durch vorehelichen Geschlechtsverkehr. Das türkische Strafrecht kennt unzählige strafmindernde Klauseln für diese Ehrenmorde. Das Polygamieverbot ist seit langem festgeschrieben, und trotzdem haben selbst etliche Abgeordnete mehrere Frauen: der Standesbeamte lässt zwar nur eine zu, aber der Imam hört auf das Wort des Propheten: bis zu 4 sind erlaubt.

Damit das neue Gesetz nicht in der Schublade verstaubt, müssen die Frauenverbände am Ball bleiben und die Juristinnen dem neuen Recht zum Durchbruch verhelfen.