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'Mehr Herzblut!'

7. September 2007

Demokratie muss täglich neu verteidigt werden, nicht nur von den Parteien, findet der im Iran geborene Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour. Auch der Bürger ist gefordert, denn Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit.

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"Was ist los mit unseren Parteien?", diese Frage wird mir als Abgeordneter immer wieder gestellt. "Glauben Sie, Parteien vertreten noch das Volk, wissen, wo den Bürgerinnen und Bürgern der Schuh drückt?", geht es dann weiter. Und schnell kreist die Diskussion um das schon so oft vorhergesagte "Ende der Parteiendemokratie".

Dr. Omid Nouripour, Bundestagsabgeordneter der Grünen/Bündnis 90
Dr. Omid NouripourBild: DW

In der Tat: Die Parteien kümmern sich nicht genug um die Bürger. Und die Bürger kümmern sich nicht genug um ihre Demokratie. Einerseits kann man den gängigen Stereotyp, nach dem - vereinfacht - vor allem die Parteien und Politiker für die aktuelle Misere der Politik verantwortlich seien, nicht so einfach durchlaufen lassen. Andererseits haben auch die Staatsbürger eine gewisse Verantwortung für die Demokratie. "Der Staat, die Politik soll’s mal richten": so einfach funktioniert Demokratie nicht.

Ich bin mit 32 Jahren ein halbwegs junger Deutscher, der die ersten dreizehn Jahre seines Lebens im Iran aufgewachsen ist. Ein Land, in dem absolut nichts von dem selbstverständlich war und ist, was uns in Deutschland heute so unendlich selbstverständlich erscheint: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit und nicht zuletzt das Recht auf freie Wahlen. Hierzulande aber gelten diese Errungenschaften leider als selbstverständlich. Selbstverständliches wird uns jedoch leider gleichgültig.

Müde Demokraten?

"Von wegen Gleichgültigkeit!", werden vielleicht manche sagen. ""Wir sind alle überzeugte Demokraten, aber wir müssen doch nicht täglich so tun, als müsste die Demokratie neu erfunden werden". Das stimmt.

Doch es gibt Extremsituationen, in denen Demokratie zwar nicht täglich neu erfunden, aber täglich neu verteidigt werden muss. Beispielsweise angesichts der wiederkehrenden Meldungen über rechtsextremistische Angriffe auf Ausländer oder ausländisch aussehende Menschen, die von Umstehenden - vorsichtig formuliert - "toleriert" werden. Wenn wir Rechtsextremisten freie Hand lassen, schauen wir nicht nur weg und geben jegliche Form von Mitmenschlichkeit und Zivilcourage auf. Wir stellen letztlich auch unsere demokratischen Freiheiten und Rechte zur Disposition, denn die Ideologie der Rechtsextremen gründet auf Willkür, Hass und Gewalt - heute gegen Andersaussehende, morgen gegen Menschen, die einfach nur sagen wollen, was sie denken.

Aber auch in weniger extremen Situationen vermisse ich bürgerschaftliches Engagement für den Erhalt demokratischer Werte, beispielsweise wenn die aktuelle Bundesregierung Bürgerrechte immer mehr einschränken und die Privatsphäre der Bürger ausschnüffeln will. Den Aufschrei der überzeugten Demokraten, wenn es beispielsweise um Einschränkungen beim Datenschutz durch die Speicherung von Flugpassagierdaten oder die Vorratsdatenspeicherung, die mit erschreckender Penetranz angekündigten Onlinedurchsuchungen heimischer PCs oder unzureichende Minderheitenrechte geht, habe ich bislang nicht gehört. Das Zitat Benjamin Franklins' "wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren" wurde in den aktuellen Diskussionen schon oft bemüht und kaum gehört. Trotzdem funktioniert Demokratie nur dort, wo sich Freiheit und Sicherheit in einer ausgewogenen Balance befinden. Deshalb gehört es aus meiner Sicht zu einer funktionierenden Demokratie, dass ihre Bürger nicht müde werden, demokratische Werte und Freiheiten zu verteidigen. Ein bisschen mehr Herzblut für die Demokratie täte gut.

Frustrierende Parteien

Parteien gelten gemeinhin als "Urgrund" aller Politik- und Demokratieverdrossenheit. Sie sind nicht mehr glaubwürdig (heißt das, sie waren es schon mal?). Sie versprechen viel und halten wenig. Sie sind nicht in der Lage, die vor uns liegenden Probleme zu lösen. Ihre Arbeit orientiert sich vor allem an ihren eigenen oder den von Lobbyisten eingeimpften Interessen. Ihr Personal ist auf Macht und Statussymbole (wie beispielsweise den viel zitierten Dienstwagen) aus und bereichert sich in Form regelmäßiger Diätenerhöhungen skrupellos aus dem Säckel der Steuerzahler.

Dieses Bild existiert, und das schon seit einiger Zeit. Angesichts regelmäßig aufgedeckter Skandale (man denke nur an die CDU-Parteispendenaffäre und die damit verbundene Entzauberung der Praktiken der fast "ewig geglaubten" politischen Führungsfigur der Bundesrepublik, Helmut Kohl) fällt es schwer, dieser Bewertung von Politikern und Parteien etwas entgegen zu halten.

Verlorene Glaubwürdigkeit

Alle, die behaupten, Politik sei ein Geschäft wie jedes andere, irren sich: Politiker haben eine besondere Verantwortung und eine besondere Verpflichtung zur Rechtschaffenheit und Unabhängigkeit. Die Bürger haben ein Recht auf ihren "gläsernen Abgeordneten", von dem sie wissen können, was er verdient und woher sein Geld kommt. Jeder Politiker muss wissen, dass er von den Bürgern nicht absolute Steuerehrlichkeit fordern kann, aber selbst - meist gut beraten - jedes Schlupfloch nutzt, das sich ihm bietet - oder das er selber geschaffen hat.

Glaubwürdigkeit geht auch dort verloren, wo Skandale offen gelegt werden, Konsequenzen aber nicht folgen oder der "schlanke Fuß" zum Markenzeichen der Politiker wird. Roland Koch, der "rückhaltlose Aufklärer" mit sehr zweifelhafter Verstrickung in die CDU-Parteispendenaffäre ist noch immer Ministerpräsident in Hessen. Sein wegen der Spendenaffäre im September 2000 zurückgetretener ehemaliger hessischer Staatskanzleichef und CDU-Generalsekretär Franz-Josef Jung ist heute Bundesverteidigungsminister. Das frustriert nicht nur, das ist skandalös.

Experten ans Steuer?

Wer soll es aber dann richten? Wenn vom "Versagen der Parteien" die Rede ist, hört man oft die Forderung, Experten sollten die Parteipolitiker ersetzen. Schließlich gelten sie als objektiv und müssten ja wissen, was wirklich gebraucht wird. Parteien hingegen sind subjektiv. Doch wie viel Objektivität verträgt Demokratie?

Parteien produzieren Meinungen, unterschiedliche Bewertungen, Interpretationen und Schlussfolgerungen zu aktuellen Fakten und Entwicklungen. Sie liefern keine "Wahrheiten", auch wenn sie selbst gerne so tun. Demokratischer Pluralismus basiert auf einer Vielfalt mehr oder weniger subjektiver Meinungen und Bewertungen, aus denen die Bürger auswählen können. Zugegeben kann man darüber streiten, wie gut die Parteien derzeit diese Aufgabe ausfüllen.

Wenn nur noch Experten Politik machen, rückt plötzlich das "objektiv Richtige" in das Zentrum der Politik und das Wissen darum ist einer kleinen Elite von Fachleuten vorbehalten. Demokratie würde so zur "Expertokratie", die für die Bürger viel weniger durchschaubar und viel weniger beeinflussbar würde.

Dynamisches System

Daher: Demokratie ohne Parteien ist für mich nicht vorstellbar. Dennoch geht die Demokratie auch über das Konzept der Partei hinaus. Sich die Demokratie voll und ganz unter den Nagel zu reißen, mag zwar der geheime Traum manches Hinterzimmer-Parteistrategen sein, doch dies wird nicht gelingen. Das zeigt sich auch daran, dass unser Parteiensystem nicht statisch ist, sondern sich gesellschaftliche Veränderungen auch in der Parteienlandschaft widerspiegeln. So ist auch die aktuelle Schwächung der Volksparteien und die Zunahme von Fünf-Parteien-Parlamenten einzuordnen.

Worauf es aus meiner Sicht heute vor allem ankommt, ist es, das Bewusstsein für demokratische Freiheiten und Werte zu stärken - innerhalb der Parteien und innerhalb der Gesellschaft. Wenn uns dies gelingt und sich die Parteien offener als bisher für neue Ideen und Unterstützer zeigen, dann könnte so mancher müder Demokrat wieder putzmunter und auch die Mitgliederbasis der Parteien gestärkt werden.

Der in Teheran geborene Omid Nouripour, 32, ist Abgeordneter für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Bundestag.