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"Mehr Respekt, ich bin deine Mutter"

Das Gespräch führte Sheila Mysorikar23. November 2005

Im Interview mit DW-WORLD erzählt der Argentinier Hernán Casciari, Gewinner der diesjährigen Weblog Awards der Deutschen Welle "The BOBs", alles über seine Mutter – und über sein ausgezeichnetes Weblog.

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Hernán Casciari: "Es begann als Selbstversuch"

Gehörst du schon zum alten Eisen, wenn deine Tochter mehr Sexstellungen kennt als du? Hast du noch die Hoffnung auf einen Orgasmus, wenn dein arbeitsloser Ehemann die meiste Zeit am Fußballplatz verbringt? Gibt es einen Weg in Würde zu altern, wenn dein 80-jähriger Schwiegervater wegen Marihuanakonsums eingebuchtet wird? Kannst du noch ruhig schlafen, wenn dein Sohn meint schwul zu sein, dann wieder nicht, und du an allem schuld bist? Dies sind nur einige der Fragen die sich Mirta Bertotti stellt, Mutter einer durchgeknallten Familie und Hauptdarstellerin des Weblogs "Mehr Respekt, ich bin deine Mutter".

Der Autor dieses humorvollen Blogromans heißt Hernán Casciari. Er ist diesjähriger Gewinner des "Best Weblog Awards" der Deutschen Welle stellt sich den Fragen von DW-WORLD.

DW-WORLD: Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie die Nachricht von Ihrer Auszeichnung erfahren haben?

Hernán Casciari: Ich war total überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass die Jury ein Weblog auswählt, das so "unmodern" daherkommt, da es sich gar nicht mit Technologie und neuen Medien beschäftigt. Ich dachte immer, dass so ein Preis nur ein edles Projekt wie zum Beispiel das ebenfalls nominierte Tsunami-Weblog gewinnen könne. Umso erfreuter war ich über die gute Nachricht.

Wann und wie begann die Arbeit an "Mehr Respekt ich bin deine Mutter“?

Ich begann die Arbeit an diesem Weblog vor über zwei Jahren als eine Art Selbstversuch, um zu erfahren, was ein Weblog überhaupt ist. "Mehr Respekt ich bin deine Mutter" ist meine erste literarische Arbeit, die ich mit Hilfe eines Weblogs begann. Alles hat wie ein netter Gag angefangen. Ich hatte nicht mehr als sieben oder acht Leser, alles Freunde aus Argentinien. Später erst kamen die ganzen anderen Leser aus aller Welt hinzu, etwas was ich überhaupt nicht erwartet hatte.

Warum haben Sie eine Frau wie Mirta als Hauptfigur für Ihr Weblog gewählt?

Weil sie eine Mutter ist, und sie mich an die Art meiner Mutter erinnert. Es fällt mir überhaupt nicht schwer, sie nachzuahmen wenn ich schreibe. Jedes Mal wenn ich darüber nachdenke, wie Mirta wohl etwas ausdrücken würde, denke ich an meine Mutter, und schon kommen mir die Sätze klar und sauber rüber. Das ist äußerst praktisch, da ich nicht lange überlegen muss und ich in der Regel sehr faul bin.

Ihr Weblog ist sehr argentinisch gefärbt. Die Familie Bertotti stammt aus dem argentinischen Ort Mercedes, genau wie Sie. Sie leben mittlerweile in Barcelona. Stellt dieses Weblog für Sie auch eine Art Verbindung zur Heimat her?

Irgendwie schon. Jeden Morgen, wenn ich mich an den Rechner setzte, um ein weiteres Kapitel zu schreiben, dann war das sicher ein Weg um mich wieder der Heimat nahe zu fühlen. Es war auf jeden Fall nicht meine Intention, in diesem Weblog die argentinische Kultur oder Gesellschaft darzustellen, der ein oder andere Hinweise oder Kommentar ist dann aber doch drin, klar.

Haben Sie mit diesem Weblog ein bestimmtes Publikum im Visier?

Eigentlich schreibe ich nur, um ein paar wenige Leute, die ich kenne, zum Lachen zu bringen. Ich versuche zu vergessen, dass es da noch ein paar tausend Andere gibt, die das lesen. Die Fans von Mirta sind sehr heterogen. Es sind Menschen zwischen 17 und 70 aus über 25 Ländern. Es gibt keine spezielle Zielgruppe, aber der Erfolg hat mich doch sehr überrascht.

Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews, welche Bedeutung Weblogs in der Literatur haben und warum Hernán Casciari die meisten Weblogs für überflüssig hält.

Sie sind auch der Autor von weiteren fiktionalen Weblogs wie zum Beispiel dem Weblog von Prinzessin Letizia, der Frau des spanischen Kronprinzen Felipe. Warum wählen Sie das Weblog als literarische Form?

Weil es viele Vorteile bietet. Ich bin Journalist und Schriftsteller. Am Journalismus habe ich immer die Schnelligkeit bewundert, und die Möglichkeit, sofort zu publizieren. Aber der Journalismus hat einen großen Nachteil: Man muss immer die Wahrheit sagen. Die Literatur hat den Vorteil, dass man lügen darf, aber ihr Nachteil ist, dass sie langsam ist. Man sitzt abgeschieden zuhause herum, und schreibt ein Jahr lang an etwas, von dem man nicht weiß, ob es jemandem gefallen wird. Was ich am Blogroman mag, ist, dass er die beiden Vorteile aus Journalismus und Literatur kombiniert, und die Nachteile wegfallen.

Wie bewerten Sie die Möglichkeiten und die Bedeutung des Formats Weblog in der Literatur?

Ein Weblog ist nur ein Instrument. Man sollte ihm nicht zuviel Bedeutung geben. Die Bedeutung liegt in dem, was wir mit diesem und anderen Hilfsmitteln schaffen. Ich denke, dass man allzu oft das Werkzeug gegenüber dem Resultat überbewertet.

Und inwieweit verändert das Internet die Möglichkeiten der Literatur?

Grundsätzlich darin, dass die Handlung nun parallel und mit permanenten Bezügen zum Zeitgeschehen verlaufen kann. Zum anderen haben die Leser nun in einem spielerischen Sinne die Möglichkeit, sich mit der Hauptfigur einer Erzählung zu unterhalten. Und drittens haben die Leser, die gleichzeitig diese Erzählung verfolgen, die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen und die Geschehnisse zu kommentieren. Diese drei Elemente sind mit dem Werkzeug Buch unmöglich zu realisieren, dafür aber in einem Weblog.

Wie sehen Sie im Allgemeinen die Zukunft der Weblogs?

Ich warte sehnsüchtig darauf, dass diese Massenhysterie um die Weblogs endlich aufhört, dass sich die Situation endlich normalisiert, und dass die Leute endlich anfangen mit Weblogs etwas Richtiges und Neues auf die Beine stellen. Derzeit schreiben 80 Prozent der Blogger ausschließlich über sich oder über Weblogs. Unter Bloggern ist die Nabelschau leider immer noch weit verbreitet. Ich hoffe, dass die Leute irgendwann mal müde werden, über dieses Phänomen zu reden und sich dabei glücklich und modern zu fühlen, und dass danach einige herausragende Weblogs übrig bleiben, die es schaffen, ihre Leser zu informieren und zu unterhalten. Das ist meine Hoffnung.

Woran denken Sie, wenn Sie sagen, Blogger sollen versuchen, etwas Neues auf die Beine zu stellen?

Ein Beispiel: Die Technologie-Blogs kauen alles wieder was Google erfindet. Es gibt hunderttausende von Weblogs die am gleichen Tag darüber berichten, dass Google ein neues Statistik-Tool anbietet. Ich finde das absolut lächerlich, dass Leute mit solchen Banalitäten ihre Zeit verschwenden, einer Nachricht, die man genauso gut in Google News nachlesen kann. Etwas Neues erfinden heißt, sich eines Hilfsmittels zu bemächtigen und etwas Neues, etwas Anderes zu schaffen, etwas was einen Wert hat und Sinn macht. Täglich entstehen neue Weblogs. Es gibt natürlich Ausnahmen, doch abgesehen von den vielleicht 20 Ausnahmen die ich kenne, gibt es 80 Millionen Weblogs, die nichts wert sind.

Konnten Sie einige dieser Ausnahmen unter den Nominierten der Weblog Awards "The BOB"’ entdecken?

Aber ja. Unter den anderen Kandidaten in der Kategorie "Best Weblog" fand ich den Russen ("Märchen aus dem Untergrund", Anm. der Red.) absolut unglaublich. Ich war fest davon überzeugt, dass weder ich noch der Russe gewinnen würden. Weil sie einfach so anders sind. Sein Weblog ist hervorragend, und das was er damit leistet atemberaubend. Er ist sehr gut, eigentlich der Beste.