1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Die Sehnsucht nach dem Politiker als Erlöser

Stanislaw Strasburger
11. August 2017

In Ost- und Mitteleuropa ist das Bild des idealen Anführers mit fast übermenschlichen Kräften stark verbreitet, meint der Schriftsteller Stanislaw Strasburger. Das gilt in Polen nicht nur für Kaczynski-Anhänger.

https://p.dw.com/p/2i3eh
Stanislaw Strasburger
Bild: Mathias Bothor

"Der Schwarze Protest hat ihm Angst gemacht, weil er in seinem Leben noch nie eine Frau gesehen hat", sagte Wladyslaw Frasyniuk auf einer Antiregierungsdemonstration in Warschau. Frasyniuk meinte damit Jaroslaw Kaczynski, den Vorsitzenden der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), und spielte auf die Proteste von 2016 an, als Tausende von Frauen gegen die geplante Verschärfung des Abtreibungsgesetzes auf die Straße gingen.

Frasyniuk wurde eine Zeit lang als möglicher Anführer einer breiten Oppositionsbewegung in Polen angesehen. Er ist eine Legende aus der Zeit der "Solidarnosc" vor 1989, hielt sich aber in den letzten Jahren eher abseits des politischen Tagesgeschehens. Viele Menschen in Polen, die nach einer politischen Repräsentanz für die zahlreichen Bürgerproteste gegen die PiS suchen, hatten geglaubt, er sei geradezu prädestiniert, die Rolle einer Leitfigur der Opposition zu übernehmen.

Derweil schlagen auch andere prominente Figuren des politischen Lebens in Polen ähnliche Töne wie Frasyniuk an. Der neue Anführer des Komitees zur Verteidigung der Demokratie (KOD) sagte auf derselben Demonstration in Warschau: "Wäre ich eine Frau, bräche ich jetzt in Tränen aus, aber ich bin ein harter Mann."      

Einer Abgeordneten der PiS wurde kürzlich bei einer anderen Gelegenheit öffentlich nahegelegt, sie solle "Sex [als Therapie] probieren". Sie werde "Schmetterlinge im Bauch spüren, einen entspannten Rücken und Blumen in den Haaren haben. Dabei können sich auch die Gedanken ordnen".    

Starker Mann, schwache Frau

In dem einen oder anderen Fall entschuldigten sich die Sprecher im Nachhinein für ihre Aussagen. Doch das half nicht viel. Aus allen Ecken strömte Kritik. Man prangerte Chauvinismus und Sexismus in öffentlichen Debatten an. Große Hoffnungen zerplatzten schlagartig. Viel politisches Kapital wurde von heute auf morgen verspielt. Doch was sagt das über unser politisches Leben aus?

Natürlich erachte ich die zitierten Aussagen als kritikwürdig. Sie erscheinen mir jedoch nicht so sehr Zeugnisse einer sexistischen Haltung der Sprecher zu sein: Eher spiegeln sie eine Unbeholfenheit im Umgang mit Emotionen.

Unterschwellig geistern hier bestimmte Vorstellungen von Geschlechterrollen herum. Ein Mann sei grundsätzlich stark und rational, eben nicht emotional. Eine Frau wird im politischen Kontext oft abwertend behandelt, weil sie nicht dazu prädestiniert sei, die Last des politischen Lebens zu tragen. Sie sei emotional - und das sei eine Schwäche.

Unterstellte sexuelle Frustrationen werden im politischen Machtkampf verwendet. Dazu zählt in Polen die vielerorts mehr oder minder ausgesprochene Vermutung, Jaroslaw Kaczynski sei ein Homosexueller, der sich nicht outet: Seine politische Verbissenheit sei angeblich seinem inneren Konflikt geschuldet.

Polen  Jaroslaw Kaczynski in Warschau
Der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski bei einem Besuch in Berlin Bild: picture-alliance/NurPhoto/A. Widak

Emotionen und Sexualität entzaubern

Um all dem entgegenzuwirken, wäre es meiner Meinung nach hilfreich, Emotionen und Sexualität im politischen Diskurs zu entzaubern. Das Problem betrifft bei Weitem nicht nur Polen. Die im sogenannten westlichen Kulturkreis heutzutage stark ausgeprägte Forderung, Privates und Öffentliches (Politisches) strikt voneinander zu trennen, erscheint aus humanistischer Perspektive schlichtweg künstlich und verstörend. Müssen wir wirklich daran festhalten? Auch Politiker sind Menschen: Sie leben ihre Gefühle aus, können emotional werden, und sagen manchmal dummes Zeug. Wie wir alle.    

Ein offener Umgang von politischen Akteuren mit ihren eigenen Emotionen sollte mit einer gesellschaftlichen Akzeptanz der Vielfalt geschlechtlicher Rollen einhergehen. Diese Akzeptanz müsste auch Politiker betreffen. Sie brauchen keinen "übermenschlichen" Status - verstanden als emotionslos, asexuell und mit besonderen Kräften und Fähigkeiten ausgestattet.

Der Auserwählte opfert sich für die Gemeinschaft

Die heftige Kritik an den zitierten Aussagen entblößt auch ein bestimmtes Bild von politischen Anführern, das einige dieser Kritiker offenbar vor Augen haben. Es ist ein messianisches Bild, das auf die Romantik des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Dieser Messianismus ist als Denkstruktur in Mittel- und Osteuropa stark verbreitet, keineswegs aber nur dort vorhanden.

Es handelt sich dabei um die Vorstellung von einem idealen Anführer, der mit beinahe übermenschlichen Kräften ausgestattet ist. Er ist nicht nur übermäßig stark und intelligent, sondern auch eine auserwählte Leitfigur, die sich für eine Gemeinschaft aufopfert - zum Beispiel für eine Nation. Bezeichnenderweise ist dieser "Messias" immer ein Mann.  

Jaroslaw Kaczynski erfüllt paradoxerweise sowohl für viele seiner Anhänger als auch für seine Gegner diese Rolle. Nach der messianischen Logik könnte nur ein ihm Ebenbürtiger den Kampf aufnehmen, um die PiS-Regierung abzusetzen. Kurzum: Ein "Supermensch" muss her!      

Netzwerke statt Messias-Figuren

Doch die Rolle des "Anti-PiS-Messias" bleibt vakant - und das ist gut. Ich glaube nicht, dass messianisches Denken ein erfolgreiches Rezept für die politische Erneuerung eines Landes sein kann. Vielmehr glaube ich an regionale Bewegungen, in denen sich Menschen lokal organisieren.

Natürlich brauchen diese Menschen eine politische Repräsentanz. Doch dezentrale Bewegungen schützen vor starken, nationalen Anführern, weil sie eben nicht nach einem unifizierenden Diskurs suchen. Vielmehr sehen sie ihre Netzwerkartigkeit als fundamentalen Wert an.

Eine solche Netzwerkartigkeit ist ein wichtiger Bestandteil der "EUtopie": Wenn ein vereinigtes Europa eine Chance auf ein dauerhaftes politisches Bestehen haben soll, so glaube ich, ist das der Weg, der gefördert werden sollte. Ansätze dafür gibt es auch in Polen.

Stanislaw Strasburger wurde in Warschau geboren. Er ist Schriftsteller und Kulturmanager. In Buchform sind von ihm erschienen: "Besessenheit.Libanon" (2015 auf Polnisch, 2016 auf Deutsch) und "Der Geschichtenhändler" (2009 auf Polnisch, 2014 auf Arabisch und geplant für 2018 auf Deutsch). Er lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. Zudem ist er Ratsmitglied des Vereins "Humanismo Solidario".    

Stanislaw Strasburger Kolumnist HA Programs for Europe, Autor "Mein Europa"