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Politik

Mein Europa: Sehnsucht nach Freiheit

Dorota Danielewicz
26. November 2016

Polen driftet nach rechts, schreibt die polnisch-deutsche Autorin Dorota Danielewicz. Sie macht sich Sorgen um die politischen Entwicklungen in Polen - glaubt aber weiterhin an die Europa-Verbundenheit der Bürger.

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Polnische Schriftstellerin Dorota Danielewicz
Bild: Peter Adamik

Ich bin in Mitteleuropa geboren, in Polen, einem Land, das zur Zeit meiner Kindheit und Jugend in einer besonderen Situation war. Unter dem Einfluss von Sowjetrussland, aber mit einer starken römisch-katholischen Tradition blickte Polen immer in Richtung Westeuropa. Man sprach auch von der "fatalen mitteleuropäischen Lage" Polens - einem Pufferland zwischen dem "wilden Osten" und der Hochburg der Zivilisation, dem Westen. Nach 25 Jahren einer relativ guten Entwicklung, nach dem NATO- und EU-Beitritt Polens, beobachten wir jetzt eine besorgniserregende Wende: Das Land driftet nach rechts, es scheint sich von den europäischen Werten zu entfernen, das Verfassungsgericht ist bedroht, die Medien sind in den Händen der Populisten.   

Doch um jemanden kennenzulernen, sollte man auch schauen, wohin sich seine Sehnsucht richtet. Polens Sehnsucht richtete sich schon immer in Richtung Paris, London, Rom oder Athen, manchmal sogar in Richtung New York, das für uns eine Art Verlängerung Europas war.

Radio Freies Europa als Kindheitserinnerung

Schon als kleines Mädchen hörte ich mit meinem Vater Radio Freies Europa. Der Münchner Sender lieferte Informationen, die sowohl Polen betrafen als auch den Rest der Welt - Informationen, die die polnische Zensur nie durchgelassen hätte. 

Die Stimmen im Radio waren schwer zu verstehen, wegen der permanenten Störsignale der polnischen Geheimdienste. Vater musste mit dem kleinen Empfänger durch die Wohnung laufen und ständig die Antenne neu ausrichten, um die Beiträge hören zu können. Der Sender Radio Freies Europa klang so, als ob er aus dem Jenseits käme: Die Stimmen kämpften sich durch ein dickes Rauschen. Leidenschaftlich und groß war die Sehnsucht nach dem freien Europa im kommunistischen Polen. Bei manchen äußerte sie sich durch die einfache Lust auf Reisen und Handel, bei anderen durch ein ständiges Streben nach einem intellektuellen Anschluss an das Gedankengut Europas. Vieles davon geschah schon in der frühen Kindheit.

Reisen in die Welt der europäischen Antike

Mein Onkel, Jerzy Danielewicz, ein Professor der klassischen Philologie, wurde durch das Spielen seines älteren Bruders und meines Vaters zu seinem Studium inspiriert. Sie stellten zu Hause am Esstisch, in einer Verkleidung aus Gardinen, die katholische Messe nach und wiederholten lateinische Gebete, in einer für die kleinen polnischen Jungen mysteriösen "lingua franca" Europas. 

Er war es auch, der mich als Siebenjährige in die Welt der europäischen Antike mitnahm. Das waren die schönsten Reisen, die mir meine Kindheit bescherte. Onkel Jerzy lehrte mich die griechischen und römischen Mythen. Von ihm erfuhr ich von Dionysos und den scharfen Liebespfeilen des Eros, lange bevor diese mich selbst erreichten. Von ihm hörte ich auch von der Entführung Europas durch Zeus, verwandelt in einen Stier. Europäische Geschichte, Literatur und Philosophie gehörten im Westen und im Osten des Kontinents zum Bildungskanon.

Die Sehnsucht der Polen nach dem freien Europa spiegelte sich auch im wichtigsten polnischen Exil-Magazin, der Pariser "Kultura". Der Chefredakteur Jerzy Giedroyc stammte aus Minsk und leitete die Redaktion von 1947 bis zu seinem Tod im Jahr 2000. Ich hatte das Glück, ihn noch persönlich kennenzulernen. Neben Übersetzungen der Schriften westlicher Denker druckte die Zeitschrift "Kultura" Artikel polnischer Autoren, die in der Heimat ihre Texte nicht veröffentlichen durften, aber auch Texte von Exilschriftstellern und Publizisten. Jahrelang sagten polnische Intellektuelle, wenn sie mit ihrem Wissen und ihrer politischen Orientierung angeben wollten: "Ich bin mit der Pariser 'Kultura' aufgewachsen."   

Polen Christus-König-Statue in Swiebodzin
Christus-Statue in Swiebodzin (Schwiebus): Die Christianisierung führte Polen in Richtung WestenBild: picture alliance/ZB/K. Schindler

Die Rolle des Katholizismus

Trotz dieser intellektuellen Prägung durch Offenheit und Liberalität gerieten viele der ehemaligen Leser dieses Magazins auf Abwege. Nicht nur Polen, sondern das heutige Europa als Ganzes driftet nach rechts. Die Tendenz, sich gegenüber der europäischen Gemeinschaft abzuschotten und das Nationale in den Vordergrund zu stellen, ist in vielen Ländern zu beobachten. In Polen kommt noch der rückwärtsgewandte, konservative Katholizismus dazu. Vor einigen Tagen sorgte eine polnische Abgeordnete in den Sozialen Medien mit der Forderung für Aufruhr, Atheisten zu "deportieren". Wie gefährlich sind diese Entwicklungen? Ist womöglich Polens "Exit" aus der EU als nächster dran, nachdem die Briten ihren Brexit beschlossen haben?

Wenn ich mich an die Europa-Sehnsucht der Vergangenheit erinnere, können die aktuellen Entwicklungen in Polen meinen Glauben an die Europa-Verbundenheit des Landes nicht erschüttern. Egal, was die Regierung noch beschließt: Die Liebespfeile des Europa-Eros stecken tief in den Herzen der meisten Polen. Auch die konservative Anbindung an die katholische Kirche kann Polen nicht von Europa entfernen, denn die Christianisierung war es doch, die Polen in Richtung Westen führte. Und spätestens seit damals führen sowieso alle Wege nach Rom. 

Die Schriftstellerin Dorota Danielewicz ist in Polen geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Berlin. Zu ihren bekanntesten Büchern gehört "Auf der Suche nach der Seele Berlins" (2013).