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Politik

Was auf dem Spiel steht

Anila Wilms
6. Januar 2017

Als Anila Wilms in den 1990er Jahren aus Albanien nach Berlin kam, erfuhr sie eine bis dahin nicht gekannte Freiheit als Frau. Das ist für sie ein sehr hohes Gut, für das sich zu kämpfen lohnt.

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Die albanische Schriftstellerin Anila Wilms
Bild: A. Wilms

Als ich im Oktober 1994 nach Berlin kam, frische Absolventin der Universität von Tirana, mit dem großen Traum, im deutschsprachigen Raum eine Intellektuelle zu werden, ahnte ich zwar, dass mir das einiges an Selbsttransformation abverlangen würde. Das Ausmaß des Kulturschocks konnte ich jedoch nicht erahnen.

Das erste war die Kälte. Am Mittelmeer war es noch Spätsommer, in Berlin herrschten Frosttemperaturen. Es war der sprichwörtliche Sprung ins kalte Wasser, oder besser, in die kalte Berliner Luft. Es war der Ostwind, wie man mir gleich erklärte. In dem sich Düfte und Farben nicht entfalten können und sich das Modebewusstsein in Grenzen hält. Weil man der Kälte nur mit dicken Jacken, Schals, Mützen und Pullis beikommen kann. Und mit Kachelöfen und vollen Kohlenkellern in Häusern, auf deren Fassaden es noch Einschusslöcher aus dem letzten Krieg gab.

Doch in Berlin gab es etwas, wofür ich bereit war, die Kälte in all ihren Erscheinungsformen hinzunehmen. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich mich in einer Stadt nach Einbruch der Dunkelheit frei bewegen. Niemand drehte sich nach mir um auf der Straße, niemand stieg mir nach. Keine obszönen Sprüche, keine durchbohrenden Blicke, keine Drohungen und kein Begrapschen durch unbekannte Männer. Mitten in der Nacht in der U-Bahn, oder mit dem Fahrrad durch den Tiergarten fühlte ich mich sicher. Von Männern mit Macht - Beamten, Polizisten, Professoren - wurde ich nicht eingeschüchtert. Auch verbreitete niemand rufmordende Gerüchte über meine "Ehre" und meine "Moral". Ich war nicht mehr bloß ein wanderndes Objekt männlicher Begierde! Merkwürdig. Das genaue Gegenteil dessen, was ich aus den 80er und 90er Jahren im abgeschotteten, kommunistischen und postkommunistischen Albanien kannte. Für junge Frauen wie mich, gab es Ruhe nur im Schutz der eigenen vier Wände und im engen Freundeskreis. 

Junge Frau Straße Pappbecher Lifestyle
Für ein freies Leben, ohne Belästigung, ohne Bedrohung, ohne ObszönitätBild: Fotolia/George Dolgikh

Leben unter dem Schutzpanzer

Von klein an legten sich Mädchen das nötige "Instrumentarium" zu, um in dieser zutiefst feindlichen Umgebung zu bestehen: züchtige Kleidung, mürrischer Ausdruck, aggressiv abweisender Blick, ein ewiges Lavieren und Ausweichen, emotionale Manipulation, Doppelzüngigkeit. Leg dich nie fest, niemals etwas Intimes preisgeben, immer jeden Vorwurf vehement bestreiten. Es war der einzige Weg, sich gegen die unerbittliche, physisch und psychisch absolut herrschende Männlichkeit, anders auch Patriarchalismus genannt, einigermaßen zu behaupten. Es herrschte ein permanenter, aufreibender Krieg zwischen Männern und Frauen. Nur ein Bruchteil des kreativen Potentials ließe sich unter diesen Umständen verwirklichen. Es war bedrohlich, es war bedrückend, es war sehr hässlich und sehr langweilig.

Es hat Jahre gedauert, bis ich der Freiheit in Deutschland trauen konnte. Bis ich mein ausgeklügeltes Instrumentarium nach und nach entsorgte und ein entspanntes, aufrichtiges, verständnisvolles Verhältnis zu Männern entwickeln konnte. Bis ich begriff, dass eine junge Frau, um voran zu kommen, in diesem Land keinen berühmten Vater, einflussreichen Ehemann, besitzergreifend beschützenden Onkel, kräftig gebaute Brüder oder andere "Bodyguards" aus der Verwandtschaft braucht. Sondern nur das eigene Urteilsvermögen, emotionale Intelligenz und Zivilcourage. Weil der Wettbewerb nicht mit Fäusten, sondern mit Sprache und Wissen ausgetragen wird. An diesen letzten arbeite ich unablässig seit zwei Jahrzehnten und bin immer noch erstaunt, wie gut es funktioniert.

Die beste aller Welten

Für uns Frauen ist diese hier die beste aller Welten. Und eine Gesellschaft, in der sich Frauen wohl fühlen und sich frei bewegen können, ist für alle lebenswert. Der Grund, warum das Abendland wie ein Magnet für so viele, zumal junge, Menschen aus patriarchalischen Gesellschaften wirkt, ist immer derselbe: die Freiheit der Frauen und die Wertschätzung des Weiblichen.

Köln Demonstration gegen Sexismus und für Feminismus
Werte, für die zu kämpfen es sich lohnt: Demonstration in Köln gegen Sexismus und für FeminismusBild: DW/F. Tamsut

Der Lebensmut der Frauen verschönert die Welt, macht sie zu einem spannenden, schillernden, freudigen Ort - der Einfallsreichtum, der Fleiß, die Zielstrebigkeit und Tapferkeit, Maß und Takt, Leichtigkeit und Trost, Klugheit, Treue und Gewissenhaftigkeit all der Schwestern, Mütter, Freundinnen. Die Aphrodites, die Athenes, die Amazonen, die Marias und die Magdalenas: Alle können hier sie selbst sein, alle können sich entfalten, ihr Bestes geben, ihre Ziele erreichen, sinnvolle, erfüllte Leben führen.

Wenn ich neuerdings von vermehrten Übergriffen auf junge Frauen erfahre, blutet mir das Herz. Ich weiß eben allzu genau, welche Gefahr droht, wenn Frauen unter Druck geraten und gezwungen werden, sich einen Panzer zuzulegen. Ein solches Leben ist nicht mehr lebenswert. Nicht nur für die Frauen, sondern für alle Mitglieder der Gesellschaft.

Wie beschützen wir die Freiheit der Frauen? Das wird eine sehr wichtige Frage für die nächsten Jahre sein, eine politische, eine gesamtgesellschaftliche. Eine Gesellschaft, die nicht in der Lage oder willens ist, ihre soft power notfalls durch hard power zu verteidigen, ist dem kulturellen Untergang geweiht. Unsere Großmütter gingen einst auf die Barrikaden. Ich wäre jederzeit wieder dazu bereit. Es steht eine der wichtigsten zivilisatorischen Errungenschaft des Abendlandes auf dem Spiel.

Die albanische Schriftstellerin Anila Wilms lebt seit 1994 in Berlin. 2012 erschien ihr erster Roman in deutscher Sprache: "Das albanische Öl oder Mord auf der Straße des Nordens".