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"Nichts für Kinder"

Andrea Grunau4. Mai 2015

Er war noch ein Kind, als der Krieg zu Ende war. Als Historiker beschäftigt er sich bis heute mit der Vergangenheit. Im März 1945 war sein Vater noch Wehrmachts-Soldat, er selbst saß mit US-Soldaten am Küchentisch.

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Kinderfoto von Helmut Schnatz aus dem Jahr 1943 (Foto: privat)
Bild: privat

Kaum waren US-Soldaten im März 1945 in Boppard am Rhein einmarschiert, aßen drei von ihnen zusammen mit Helmut Schnatz und seiner Schwester die Erbsensuppe, die seine Mutter im Keller eines benachbarten Hotels gekocht hatte. Zwischen Regalen mit Weinflaschen und Hotelbetten hatte die Nachbarschaft vier Tage dort ausgeharrt, während die Front nach Boppard rückte. Vater Schnatz war als Soldat in Italien. Seine Mutter war mit den Kindern aus Koblenz weggezogen, als die Luftangriffe dort im Herbst 1944 immer heftiger wurden. Am Kriegsende war die Koblenzer Innenstadt zu 87 Prozent zerstört.

Auch in Boppard wurde noch geschossen, denn auf der anderen Rheinseite lagen noch deutsche Soldaten. Als der 12-jährige Helmut aus dem Flur durchs Wohnzimmer auf das andere Ufer schaute, auf das die Amerikaner ihre Waffen richteten, "lief eine breite Blutspur die Ufermauer herunter". Der US-Soldat im Wohnzimmer schickte den Jungen weg vom Fenster, das sei "nothing for children", nichts für Kinder.

US-amerikanische Soldaten 1945 auf einem Boot (Foto: "imago/United Archives)
1945: US-Amerikaner auf dem Rhein bei BoppardBild: imago/United Archives

Wie fühlte sich das an, mit "dem Feind" Erbsensuppe zu essen, während der Vater doch als Wehrmachts-Soldat im Krieg war? Zu dem Zeitpunkt, erinnert sich der heute 82-Jährige, war das Gefühl nur noch: "Es soll vorbei sein!" Zu Kriegsbeginn habe er abends noch gebetet, dass "wir den Krieg gewinnen". Doch im Frühjahr 1945 sehnte er nur noch das Ende herbei. Vor den Amerikanern hatte man in Koblenz und Umgebung auch keine Angst, sagt Schnatz. Man hatte mit ihnen als Besatzer nach dem Ersten Weltkrieg gute Erfahrungen gemacht.

Helmut Schnatz schaut zum Himmel (Foto: Andrea Grunau/DW)
Bei Fluglärm schaut Helmut Schnatz bis heute stets zum Himmel - hier oberhalb der Koblenzer SüdstadtBild: DW/A. Grunau

Luftkrieg und Hitlerjugend

Zuhause in Koblenz hatte Familie Schnatz schon etliche Bombenangriffe erlebt, bevor der Großteil der Bevölkerung evakuiert wurde. Sie wohnte in der Südstadt, musste immer häufiger in Bunker flüchten. Helmut, der sich sehr für Flugzeuge interessierte, war am Anfang fasziniert von den glitzernden US-Bombern. Doch als die ersten Brandbomben in die Südstadt fielen und es in der Nachbarschaft brannte, "da hatten wir Angst".

Geschäftshäuser am Koblenzer Platz "Auf dem Plan" (Foto: Hans Werner Fischbach)
Hier hatte Schnatz' Großvater sein GeschäftBild: Archiv Hans Werner Fischbach

Beide Großväter wohnten in der Innenstadt. Einmal kam der eine zu Besuch in die Südstadt, zu Schnatz' Mutter und den Kindern. Es gab Fliegeralarm. Zuhause ging der Großvater nie in den Keller. Jetzt kam er mit. Die Kinder lagen am Boden: "Meine Mutter lag über uns, mein Großvater saß wie eine Statue im Korbsessel und rührte sich nicht". Nach dem Angriff fuhr die Mutter mit dem Rad zu ihrem Elternhaus. Dort hatte ihr Vater auch sein Mützenmacher-Geschäft. Seine Wohnung im Hinterhaus hatte einen Volltreffer abbekommen. Der Besuch hat ihm womöglich das Leben gerettet. Auch der andere Großvater wurde ausgebombt.

Ruinen am Koblenzer Platz "Auf dem Plan" (Foto: Bundesarchiv-146-1970-088-56)
Der selbe Platz nach den Luftangriffen, die Uhr hängt nochBild: Bundesarchiv-146-1970-088-56

Bald darauf zog die Mutter mit den Kindern ins 20 Kilometer entfernte Boppard, wo die Leute noch gemütlich spazieren gingen: "Da haben sie über uns gelacht, weil wir bei jedem noch so fernen Motorengeräusch Panik bekamen und in den Keller rannten." In Boppard hörte für Helmut Schnatz auch das Exerzieren und Antreten im "Jungvolk" der Hitlerjugend auf. In Koblenz mussten sie jeden Mittwoch und Samstag antreten, sagt er, "das war uns lästig, wir wollten spielen". Er erinnert sich, dass sie im April 1944 mit allen Jahrgängen zu einem großen Propagandamarsch am Koblenzer Schloss aufmarschierten. Sie mussten antisemitische Lieder singen. Keiner von ihnen habe sich etwas dabei gedacht, sagt Helmut Schnatz.

Entnazifizierung: Trümmer räumen

Im Juli 1945 kehrte Helmuts Vater aus Italien zurück. Er war nur kurz in Kriegsgefangenschaft gewesen und berichtete, dass sie in ihrem Lager bei Livorno vor Zelten in der Sonne lagen, spielten und rauchten. Zurück in Koblenz ließ man ihn aber erst mal nicht zurück in den alten Beruf. 1937 hatte man ihn als Beamten bei der Bezirksregierung zum Eintritt in die NSPAP genötigt, berichtet sein Sohn. Nach dem Krieg wurde er "entnazifiziert". Zwei Jahre lang durfte er nicht mehr als Beamter arbeiten, er musste Trümmer räumen. Hat sein Vater das eingesehen? Er beschwerte sich nicht darüber, sagt Helmut Schnatz, und später habe er betont: "Ich gehe nie wieder in eine politische Partei."

Helmut Schnatz und seine Mitschüler hatten im Herbst zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr wieder Schule. Ein Schüler hinkte, er war bei einem Tieffliegerangriff auf einen Zug verletzt worden. Die Schule hatte keine Fenster und zunächst auch keine Heizung. Man suchte den Weg zurück in die Normalität. Trocken fragte der Lateinlehrer in der ersten Stunde: "Wo waren wir stehen geblieben?" In ihrer Freizeit spielten die Jungs mit Munition, machten Feuer, warfen Blindgänger hinein. Einmal "gab's einen furchtbaren Knall, die Brocken flogen". Die Jungen, die direkt am Feuer gestanden hatten, kamen "verbrannt und schreiend" durch die Trümmer gerannt.

Kinder spielen in Trümmern (Foto: picture-alliance/dpa)
Gefährlicher Spielplatz - Kinder in den TrümmernBild: picture-alliance/dpa

Alpträume, bis das Buch zum Luftkrieg fertig ist

Helmut Schnatz wurde Geschichts- und Deutschlehrer und promovierte. Er gab auch Sozialkunde und klärte die Schüler über ihre Grundrechte auf. Stets ging es ihm darum, klarzumachen: "Was ist Gewaltherrschaft? Was sind freie Bürger?" Im "erzreaktionären" Boppard, wo er zunächst arbeitete, hieß es bald: "Der Schnatz ist ein Kommunist", berichtet er. Helmut Schnatz beschäftigte sich wieder mehr mit Geschichte. Von den Bombenangriffen hatte er noch Jahrzehnte nach dem Krieg Alpträume, erzählt er. Erst als der Historiker 1981 seine Studie zum "Luftkrieg im Raum Koblenz 1944/45" veröffentlicht hatte, hörten die Albträume auf.

Helmut Schnatz ließ das Thema Bombenkrieg nicht los. Er fragte sich, was aus den Männern wurde, die damals als US-Piloten in der Gegend von Koblenz abgeschossen worden waren. Er startete einen Aufruf über einen Veteranenverband. Roy Petersen aus Michigan meldete sich. Daraus entwickelte sich eine enge Freundschaft, man besuchte sich. Schnatz konnte seinem amerikanischen Freund sogar noch die Bomben zeigen, die der damals noch nicht abgeworfen hatte: Sie standen vor einer Sägemühle. Petersen sagte: "Gut, dass die niemand mehr schaden können", erinnert sich Schnatz.

Helmut Schnatz mit seinem amerikanischen Freund vor einem US-Bomber (Foto: Andrea Grunau/DW)
Helmut Schnatz (re.) und sein amerikanischer Freund vor einem US-BomberBild: Privat

Schülern von Auschwitz berichten

Helmut Schnatz war Mitglied in einer Historikerkommission, die sich mit den Luftangriffen auf Dresden beschäftigt hat. Bei der Buchvorstellung in Dresden gab es Ärger mit NPD-Anhängern, denen seine Forschungsergebnisse nicht in ihre Propaganda passten. Schnatz erhielt auch anonyme Drohungen, sagt er. Seine Untersuchung - wie auch die anderer Forscher - hatte ergeben, dass es bestimmte Tiefflugangriffe auf Dresden nicht gegeben haben konnte. Es geht ihm um die Fakten, betont er.

Als der Historiker sich 2004 für den Bildband "Ganz Koblenz war ein Flammenmeer" noch einmal mit dem Bombenkrieg auf Koblenz beschäftigte, stellte er schon im Vorwort klar, dass es nicht darum gehe, "zu emotionalisieren, Mitleid zu erwecken oder anzuklagen, sondern die Nachdenklichkeit des Lesers und Betrachters zu wecken". Zum Nachdenken wollte Helmut Schnatz auch als Lehrer anregen. Von seinen eigenen Erfahrungen hat er seinen Schülern nicht viel erzählt, sagt der 82-Jährige: "Die Kenntnisse über Auschwitz sind wichtiger als meine Erfahrungen vom Luftkrieg."

Helmut Schnatz vor Bücherrregal (Foto: Andrea Grunau/DW)
Helmut Schnatz (82) will weiter forschenBild: DW/A. Grunau