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Politik

Die neue Generation der Diktatoren

Kommentarbild PROVISORISCH Johan Ramirez
Johan Ramírez
10. Januar 2022

Früher trugen sie olivgrüne Uniform und kamen mit Gewalt an die Macht. Heute lassen sie sich ganz einfach wählen. Und die echten Demokratien schauen nur hilflos zu, meint Johan Ramírez.

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Karikatur von Vladdo: Wahlsieger Daniel Ortega steht auf einer Wahlurne, die eigentlich ein Gefängnis mit Gitterstäben ist u d auf der "Opposition" steht. Das Wort "Nicaragua" wirft den Schatten "Diktatur"
Wahlen lassen sich leicht gewinnen, wenn alle ernsthaften Gegenkandidaten im Gefängnis sitzen

Die lateinamerikanischen Diktatoren haben sich angepasst. Sie haben verstanden, dass sie sich erneuern, wandeln und vor allem auf Kasernenrevolten verzichten müssen, wenn sie im 21. Jahrhundert überleben wollen. Deshalb tragen die Tyrannen, die heute die ärmsten Länder der Region regieren, kein Olivgrün mehr. Sie erobern ihre Macht nicht mehr wie in den vergangenen Jahrzehnten mit Gewehrkugeln. 

Seit der Jahrtausendwende haben sie ausgerechnet demokratische Mechanismen genutzt, um ihre modernen totalitären Regime zu errichten - und das in aller Öffentlichkeit. Sie beschreiten vor allem drei Wege: Wahlen, internationale Gremien und geregelte Verfahren. Indem sie diese Mechanismen nach Belieben manipulierten, sind sie stark geworden, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen.  

Scheindemokratie 

Ein guter Beleg für diesen Befund ist das, was wir in diesen Tagen in Nicaragua erleben. Am Sonntag hat die neu gewählte Nationalversammlung ihre Arbeit aufgenommen, am Montag wurde der Diktator Daniel Ortega für eine weitere fünfjährige Amtszeit vereidigt. Doch im Gegensatz zu den traditionellen Diktaturen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren Terror in Mittelamerika verbreiteten, kann sich Ortega auf das Ergebnis allgemeiner Wahlen berufen. Natürlich handelte es sich um manipulierte Wahlen, die im November genau das Resultat lieferten, das der Diktator gerne haben wollte.  

DW Redakteur TV Spanisch Johan Ramirez
Johan Ramirez ist DW-Korrespondent für Lateinamerika mit Sitz in KolumbienBild: Privat

Denn Daniel Ortega hat die staatlichen Institutionen genutzt, um die Wahllisten zu bereinigen und diejenigen aus dem Rennen zu nehmen, die ihm in einer echten Demokratie die Macht entrissen hätten. Er setzte die Justiz ein, um seine politischen Gegner ins Gefängnis zu werfen, unbequeme Journalisten zu verfolgen und zivilgesellschaftliche Organisationen zu verbieten, die seine Verfehlungen anprangerten.

Und so nutzte er das in der Verfassung garantierte Wahlrecht, um ein Parlament zu schaffen, das ihm genehm war, und um sich selbst für eine weitere Amtszeit zu bestätigen. Ortega ist der lebende Beweis dafür, dass man auch ohne einen Staatsstreich Diktator werden kann. 

Außenpolitische Unterstützung 

Es reicht jedoch nicht aus, das System nur im eigenen Land zu manipulieren. Die modernen Autokraten haben auch gelernt, internationale Organisationen für ihre Zwecke einzuspannen. So hat schon Venezuela unter Hugo Chávez bewiesen, dass man sich - solange man das Geld dazu hat - bei Gipfeltreffen Unterstützung erkaufen kann, um internationale Gegner auszubremsen. Denn die kleinen karibischen Inseln brauchen immer jemanden, der ihnen eine Straße, ein Krankenhaus oder ein Kraftwerk baut. 

Chávez präsentierte sich stets als solidarischer Humanist, aber im Gegenzug sorgte er dafür, dass diese Länder zusammen mit einigen ideologischen Verbündeten fest an seiner Seite standen. Immer wieder legten sie ihr Veto gegen Beschlüsse ein, die andernfalls die Konsolidierung seiner absoluten Macht und damit die Umwandlung der ehemaligen Ölmacht in ein Imperium des Elends verhindert hätten. 

Geregelte Verfahren  

Zu den beiden vorgenannten Elementen fügen moderne Diktaturen ein drittes hinzu: ordentliche und geregelte Verfahren. Zum Beispiel ein ordnungsgemäßes Verfahren, um Vorwürfe über willkürliche Verhaftungen, gezieltes Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen innerhalb ihrer Sicherheitskräfte zu untersuchen. 

Solche Ermittlungen können ein Leben lang dauern, aber daran ist niemand schuld - so lange dauert ein ordentliches Verfahren eben. Und während die Opfer weiter zu Opfern werden, bleiben Ergebnisse aus. Zum Schein gründen diese modernen Diktatoren Menschenrechtsgremien, ernennen Ombudsleute und arbeiten sogar mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zusammen. Und sie tun dies alles, während sie die Folterer schützen, die Toten verhöhnen und ihre geheimen Gefängnisse mit politischen Gefangenen füllen. 

Wohlige Gewissheit

Aber die echten Demokratien zeigen sich naiv und geben den Despoten immer neue Chancen: Sie richten Beobachtungsmissionen und Kontaktgruppen ein, als ob Mörder so etwas wie Aufrichtigkeit respektieren und schätzen würden.  

Durch Manipulation der Demokratie ist es den Diktatoren gelungen, zu überleben. In der so gewonnenen Zeit konnte Fidel Castro an Altersschwäche und Hugo Chávez an Krebs sterben, Raúl Castro in den Ruhestand gehen und Nicolás Maduro im venezolanischen Präsidentenpalast Fett ansetzen. Und Daniel Ortega hat in Nicaragua Wurzeln geschlagen, mit dem erklärten Vorsatz, die Macht nicht mehr aus der Hand zu geben. Ortega hat es nicht mehr nötig, Regierungsgebäude zu stürmen oder Panzer auffahren zu lassen. Er bedient sich eines Mittels, das Diktatoren, die Revolutionäre wie er einst stürzten, noch fürchteten: Wahlen.  

Die neuen Diktatoren tragen Krawatten und nehmen ganz selbstverständlich an internationalen Konferenzen und Gipfeltreffen teil - in der wohligen Gewissheit, dass sie (der Demokratie sei dank!) für immer ungestraft davonkommen werden.