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Meinung: Sexismus darf man nicht ignorieren

Johanna Schmeller28. Januar 2013

Das Wort "Herrenwitz" gibt es in keiner anderen Sprache - in Deutschland wird es derzeit zum Synonym für alltäglichen Sexismus.

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Hat er oder hat er nicht? Vor einem Jahr also soll Rainer Brüderle einer vierzig Jahre jüngeren Journalistin verbal zu nahe getreten sein. Heißt es. Und bisher dementiert Brüderles Partei, die FDP, nicht, der Angegriffene entschuldigt sich nicht, Parteikollegen schießen allerdings markige Sprüche nach: Auch er habe schon Journalistinnen "angebaggert", diktiert Freidemokrat Wolfgang Kubicki der größten deutschen Boulevardzeitung in die Feder - und weiter: Künftig werde er sich von dieser Berufsgruppe jedoch gezielt fernhalten. So etwas nennt man eine beiderseitige Win-Win-Situation, die niemand weiter kommentieren muss.

Der Fall Brüderle jedoch liegt anders: Er wurde jüngst zum FDP-Spitzenkandidaten für die Bundestagswahlen ernannt. Daher wurde die Sache, die über ein Jahr zurückliegt, erst jetzt veröffentlicht. In Deutschland löst die Angelegenheit derzeit eine überfällige Gesellschaftsdebatte aus - und umso peinlicher ist Brüderles Schweigen.

Im selben Atemzug wird eine andere Geschichte öffentlich diskutiert, die im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zitiert wurde: Darin wehrt sich eine Redakteurin gegen sexistische Anfeindungen der "Piratenpartei", sie habe sich Informationen aus Parteikreisen durch sexuelle Dienstleistungen erschlichen. Im Netz wurde sie als "Prostituierte" diffamiert. Die Redakteurin ging umgehend an die Öffentlichkeit: "Natürlich renne ich nicht bei jedem dummen Spruch zur Antidiskriminierungsstelle", schreibt sie in einem kühlen, ausgeruhten Essay im "Spiegel". Schade, dass sie das überhaupt betonen muss. Aber recht hat sie, dass sie annimmt, sie müsse.

Deutschland ist in Hinblick auf die Gleichberechtigung längst nicht so weit, wie wir sein könnten, das zeigt die gegenwärtige "#Aufschrei"-Debatte bei Twitter nur zu deutlich.

Sexuell konnotierte Scherze - wie Brüderles Anspielung auf das pralle Dirndl-Dekolleté der "Stern"-Autorin - lassen seit der deutschen Feminismusbewegung der 1970er Jahre kaum eine Frau mädchenhaft erröten, und das ist gut so. Der Gedanke an Liebesbeziehungen über alle Einkommens-, Bildungs- und Altersgrenzen hinweg erschreckt niemanden mehr ernsthaft, und das ist fast noch besser. Immerhin.

Entscheidend ist aber, wo und wie manche "Toilettenwand-Scherze" platziert werden. Hier wurde eine nicht einmal besonders originelle Bemerkung da angebracht, wo sie auf unfaire Art eine Hierarchie zwischen den Gesprächspartnern herstellen sollte.

Sexismus ignorieren?

"Kann man denn nicht einfach die Schultern zucken und weggehen?", fragt ein Kollege. Man könnte. Doch weshalb sollte man denn? Wer möchte seriösen Reporterinnen wie Laura Himmelreich vom "Stern" und Annett Meiritz vom "Spiegel" ernsthaft raten, dienstliche Hintergrundtreffen - auch wenn sie zu fortgeschrittener Stunde an der Hotelbar stattfinden - früher zu beenden, um es nicht zu Verbalausfällen unbeherrschter Gegenüber kommen zu lassen? Gesellschaftliche Standards gibt es, damit manche Grenzen eben nicht dem spontanen Einfühlungsvermögen von - vielleicht gelangweilten, vielleicht müden, möglicherweise auch nicht mehr ganz nüchternen - Machtmännern überlassen bleiben.

Die "Stern"-Reporterin muss sich jetzt vorhalten lassen, mit ihrer Information so lange, zu lange gewartet zu haben, als dass man ihr persönliche Betroffenheit und moralische Entrüstung noch abnehmen würde. Ein Denkfehler. Die Frau hat nicht gezögert, sondern ihren Informationsstand gegen den der Allgemeinheit abgewogen, gewartet, anstelle ihr persönliches Unbehagen zum Gegenstand einer früheren Debatte zu machen.

Vorausgesetzt die geschilderte Situation im Text der Journalistin lässt sich objektiv bestätigen, stellt sie die Frage: Hat ein beinahe Siebzigjähriger, der über eine schwache Selbstkontrolle verfügt, tatsächlich Führungsqualitäten?

Die Diskussion regt die Politikjournalistin zu einem Zeitpunkt an, der gar nicht klüger gewählt sein könnte: im Moment einer bundespolitisch hochrelevanten Personaldebatte. Rational, kalkuliert, beherrscht, strategisch - diese Worte liest man allerdings in der deutschen Presse derzeit noch nicht. Weil man diese Attribute von einer jungen, blonden Frau nicht erwartet? Wir sind längst noch nicht so weit, wie wir sein könnten.