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Die USA am Scheideweg

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Ines Pohl
25. Mai 2022

Neben dem Entsetzen gab es auch Hoffnung. Doch von der landesweiten Solidarisierung mit George Floyd ist zwei Jahre danach nichts mehr übrig. Im Gegenteil - das Land fällt immer weiter auseinander, meint Ines Pohl.

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Demonstranten vor der Brooklyn Bridge und der Skyline von New York, die ein Plakat mit dem Bild von George Floyd hochhalten
Der Tod von George Floyd war Initialzündung für die Black Lives Matter-Bewegung - doch bewegen konnte sie fast nichtsBild: STRF/STAR MAX/IPx/picture alliance

Neun Minuten und 29 Sekunden wurden zum Symbol des systemischen Rassismus in den USA. Neun Minuten und 29 Sekunden kniete der weiße Polizeibeamte Derek Chauvin mit seinem vollen Körpergewicht auf George Floyd - bis dieser starb. Das Video des Mordes löste eine Protestwelle aus, nicht nur in den USA, auch in vielen anderen Ländern.

Neun Minuten und 29 Sekunden symbolisierten für einige Monate auch die Hoffnung, dass die Vereinigten Staaten endlich in der Lage wären, die Polizeigewalt gegen Schwarze im Grundsatz zu bekämpfen und die lang überfällige Polizeireform landesweit anzupacken. 

Weder Polizeireform noch schärfere Waffengesetze

Zwei Jahre später ist davon nichts geblieben. Es gab weder eine Polizeireform noch wurden die Waffengesetze verschärft. Im Gegenteil. Die Richtung, in die sich die USA entwickeln, lässt wenig Gutes hoffen. Nicht nur für den Kampf gegen systemischen Rassismus, sondern auch für die Verteidigung von Frauen- und LGBTQ-Rechten, dem allgemeinen Schutz von Minderheiten.

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Ines Pohl leitet das DW-Studio WashingtonBild: DW/P. Böll

Die Gefahr für das Land ist multidimensional und geht von ganz oben aus - dem Obersten Gerichtshof. Bei allen politischen Differenzen und bei aller Polarisierung, welche die USA seit Anbeginn prägen, waren die Richterinnen und Richter bis dato zuallererst nicht ihrem Parteibuch, sondern der Unabhängigkeit des Gerichts verpflichtet. Die Institution stand vor der Politik. Das hat sich mit den Berufungen durch Donald Trump geändert. Und das ist umso dramatischer, da die Richterinnen und Richter vom jeweils amtierenden Präsidenten auf Lebenszeit bestellt werden. 

Abtreibungsverbote erst der Anfang

Der brutale Ausdruck davon ist die erwartete Aufhebung des landesweiten Rechts auf Abtreibung, das seit 1973 besteht. Hier geht es nicht um Rechtsprechung, sondern allein um politisches Kalkül. Wichtige Wählergruppen, die Evangelikalen, werden mit diesem Verbot belohnt, damit sie auch weiter fest an der Seite der Republikanischen Partei stehen.

Der Gesetzestext ist dabei so geschrieben, dass er die Möglichkeit eröffnet, auch andere liberale Gesetzgebungen aufzuheben. Viele fürchten, dass es auch die Rechte von LGBTQ-Menschen treffen kann und als nächstes die Homo-Ehe aufgehoben werden könnte. All das ist eingebettet in einen Feldzug, der die grundsätzliche Frage aufwirft, wie sich die Vereinigten Staaten Amerika in Zukunft definieren wollen.

Kulturkampf in Gerichtssälen ausgetragen

Schulbücher, die das Thema Rassismus thematisieren, werden verboten, Eltern soll das Recht genommen werden, ihre Kinder dabei zu unterstützen, ihre sexuelle Identität zu finden, wenn diese nicht heterosexuell ist. Die Blüten, die dieser Kampf in vielen konservativen Bundesstaaten treibt, mögen von außen wie absurde Spinnereien erscheinen. Sind es aber nicht.

Die brutale Wahrheit ist, dass reaktionäre Kräfte seit Jahrzehnten wichtige Positionen in den verschiedenen Gerichten kontinuierlich besetzen, um so diesen Kulturkampf in den Gerichtssälen gewinnen zu können und nicht von demokratischen Wahlergebnissen abhängig sind. Denn die Mehrheit im Land lebt schon jetzt andere Werte - und will das auch in Zukunft tun.

Institutionen von innen unterwandert

Die Menschen, die dagegen aufgestanden sind in den vergangenen Jahren, sind müde. Ausgepowert. Erschöpft. Und hoffnungslos. Wenn selbst die starke Black Lives Matter-Bewegung nach der Ermordung von George Floyd zu keiner Polizeireform geführt hat - wer oder was soll es dann schaffen?

Die Vereinigten Staaten stehen vor einem massiven Wendepunkt. Und der Rest der westlichen Welt sollte sich darauf vorbereiten, dass die Institutionen, die die Werte schützen sollen, für die die Vereinigten Staaten standen, von innen unterwandert werden. Schlimmer noch - in weiten Teilen bereits unterwandert sind.

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Ines Pohl Büroleiterin DW Studio Washington@inespohl