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Merkel kann immer noch Kanzlerin werden

Uta Thofern23. September 2005

Wer Merkel unterschätzt, hat schon verloren. Der Satz ist berühmt geworden, nach Angela Merkels unerwartet schlechtem Wahlergebnis aber schnell in Vergessenheit geraten. Vielleicht zu schnell, meint Uta Thofern.

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Horst Seehofer war es, dem diese Einschätzung entschlüpfte, nachdem die CSU im Streit um die Gesundheitspolitik Kompromisse mit Merkels CDU machen musste - Kompromisse, die Seehofer nicht ertragen konnte. Der CSU-Gesundheitsexperte legte seine Ämter nieder und gilt seitdem als eines von Merkels prominentesten Opfern. Dabei hatte Seehofer sich selbst demontiert, sich im Vollgefühl seiner Macht als politisches Schwergewicht der Union soweit aus dem Fenster gelehnt, dass selbst CSU-Chef Edmund Stoiber ihn nicht mehr halten konnte. Das Schwergewicht plumpste, und "das Mädchen" Angela mutierte endgültig zu Merkel, dem männermordenden Monster.

Was für eine Fehleinschätzung! Angela Merkel meuchelt nicht, sie intrigiert noch nicht einmal. Aber sie kann es aushalten, unterschätzt zu werden, und sie kann warten. Zum Beispiel darauf, dass andere Fehler machen.

Dass ihre vermeintlichen Opfer meistens Männer sind, hat nichts damit zu tun, dass sie eine Frau ist. Merkel ist keine "typische" Frau, aber das überwiegend männliche politische Establishment neigt zum typisch männlichen Fehler der Selbstüberschätzung. Nichts dokumentiert diesen Tatbestand so beispielhaft wie der Fernsehauftritt von Gerhard Schröder am Wahlabend (Sonntag, 18.9.). Immer noch rätselt die Republik, was den Mann getrieben oder was er genommen haben könnte, um einen solch maßlosen Akt der Selbstüberhöhung vor laufender Kamera inszenieren zu können. Dabei war der Auftritt vermutlich wohl kalkuliert: In die Offensive gehen, sich selbst zum Sieger ausrufen, das angeschlagene "Mädchen" damit in die Ecke treiben und den Männern ihrer Partei zum Fraß vorwerfen.

Mit demokratischen Spielregeln hatte das nichts mehr zu tun. Aber es war zu kurz gedacht. Weil Merkel nicht - wie erwartet - zusammenbrach, sondern Schröders Angriffe instrumentalisierte, um die wahrhaftig mehr als gefährdete Solidarität ihrer Mannen einzutreiben. Wer jetzt in der Union gegen Merkel schießt, gerät in den Verdacht, Schröder zu unterstützen.

Angela Merkel ist in ihrem Leben schon viel häufiger abgeschrieben worden, als der selbstgerechte Medienkanzler, der da am Wahlabend Rundumschläge austeilte. Diese Frau kann mehr einstecken als ein Preisboxer. Sie ist gnadenlos logisch, eisern gelassen, stoisch vernünftig und enervierend beharrlich. Das sind weder weibliche noch männliche Eigenschaften, aber solche, mit denen sie immer noch Kanzlerin werden kann. Noch werden Regierungschefs in Deutschland nicht nach den Regeln des Faustkampfs ermittelt.