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Die ostdeutsche Doppelspitze

Bernd Gräßler2. Oktober 2015

Die Führungsetagen des vereinten Deutschland sind eine weitgehend "ossifreie Zone". Ausgerechnet der Bundespräsident und die Kanzlerin kommen aber aus dem Osten. Manchmal merkt man das. Bei ihm mehr, bei ihr weniger.

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Tag der Deutschen Einheit 2014 Hannover
Bild: picture-alliance/dpa/O. Spata

Ende August 2015. Die Flüchtlingskrise spitzt sich zu. Doch Angela Merkel hüllt sich in Schweigen. So lange, bis "#Merkelschweigt" und "#Merkelsagwas" auf Twitter die Spitze der deutschen Hashtags erobern. Auch im "Spiegel" wird die Kanzlerin angezählt. Erst dann redet sie Klartext zu den Ausschreitungen im sächsischen Heidenau, besucht erstmals seit ihrem Amtsantritt eine Flüchtlingsunterkunft und entscheidet wenig später überraschend, Deutschlands Grenzen für eine "einmalige humanitäre Aktion" zu öffnen.

Es gibt Situationen, in denen man auch heute noch die ostdeutsche Herkunft der "mächtigsten Frau der Welt" zu erkennen glaubt. Abwartend, vorsichtig, misstrauisch, das seien eher Ostdeutsche, sagt der Hallenser Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz. Sich möglichst nicht an die Spitze stellen, wo man angreifbar ist. Merkel passe in dieses Raster. Mit Merkel regiere die Vorsicht statt der Mut zu Veränderungen. Maaz hat in der DDR als Nervenarzt gearbeitet und 1990 das Buch "Gefühlsstau" über die Folgen von Repression für die Psyche der Ostdeutschen geschrieben. Merkel sei in ihrem Amt das Gegenteil dessen, was man von einem männlichen Westpolitiker erwarte, sagt er, es fehle das "narzisstische Dominanzgebaren".

Hans-Joachim Maaz
Maaz: Mit Merkel regiert die Vorsicht.Bild: picture-alliance/dpa/H. Galuschka

Schweigen als Überlebenstrategie

"Ja es ist ein großer Vorteil aus der DDR-Zeit, dass man gelernt hat, zu schweigen. Das war eine der Überlebensstrategien". So wird Angela Merkel von einem ihrer zahlreichen Biographen zitiert. Die konservative Publizistin Gertrud Höhler warnt, niemand wisse so genau, was Angela Merkel antreibe. Höhler, eine frühere Vertraute von Kanzler Helmut Kohl, kritisiert in ihrem 2012 erschienenen Buch "Die Patin" das "System Merkel" habe zum Verfall der politischen Sitten in Deutschland geführt.

Halt! War es nicht Angela Merkels politischer Ziehvater Helmut Kohl, der das Aussitzen von Problemen zu höchster Vollendung brachte? Der bis heute eisern über die großzügigen Geldspender schweigt, mit denen die schwarzen Kassen der CDU gefüllt wurden?

Die Suche nach ostdeutschen Spuren im Verhalten der Angela M. ähnelt oft der früheren Kreml-Astrologie: Könnte sein ... oder auch nicht.

Es ist nicht nur der – in der Bevölkerung sehr beliebte – zurückhaltende Politikstil, der das "Mädchen aus Templin" von den Vorgängern im Berliner Kanzleramt unterscheidet: Man wisse auch nicht, wofür sie eigentlich steht, heißt es. Ein Abgeordneter der Linkspartei hat herausgefunden, dass Merkels Kanzleramt in ihrer ersten Amtszeit nicht weniger als 600 Umfragen in Auftrag gegeben hat. Spötter meinen, die Ergebnisse seien die eigentliche Leitlinie ihrer Politik gewesen. Selbst der ebenfalls aus dem Osten stammende ehemalige Pfarrer, spätere Stasi-Akten-Verwalter und heutige Bundespräsident Joachim Gauck wird mit dem Satz über Merkel zitiert: " Ich respektiere sie, aber ich kann sie nicht richtig erkennen."

Gauck ist anders

Bei Gauck selbst fällt dies leichter. Er zieht seine Autorität aus seiner Lebensgeschichte. Der Vater wurde in den 50er Jahren aus der DDR in ein Arbeitslager Stalins deportiert, dies sei die "Erziehungskeule" gewesen, der Bruch der Familie mit dem DDR-Staat, schreibt Gauck. Er selbst findet seine Heimat unter dem Dach der Kirche, wird später als Pfarrer bei der Stasi als "unbelehrbarer Antikommunist" aktenkundig. Die Öffnung der Stasi-Archive nach der deutschen Einheit ist mit seinem Namen verbunden. Er sieht sich als "reisenden Demokratielehrer". Als in Thüringen im Oktober 2014 der Linken-Politiker Bodo Ramelow vor der Wahl zum Ministerpräsidenten steht, warnt Gauck, die Linke habe ihre SED-Vergangenheit noch nicht genügend aufgearbeitet. Eine unübliche Einmischung des Präsidenten in den Wahlkampf, die aber Beifall der Konservativen beschert.

Joachim Gauck im Jahr 1989
Pfarrer Gauck 1989 in der Rostocker MarienkircheBild: picture-alliance/dpa/S. Wittenburg

Merkels ostdeutscher Spagat

Merkels Trumpf ist ihre Popularität in der breiten Bevölkerung als unprätentiöse, bodenständige Ausnahme unter den Politikern "da Oben". Die politische Klasse dagegen vermisst ein klares Profil der Protestantin. Ihr fehlt nicht nur der "Stallgeruch" der rheinisch-katholischen CDU. Stattdessen hat sie eine glatte Wissenschaftlerkarriere in der DDR hinter sich, in der sie auch noch als Funktionärin des Staatsjugendverbandes FDJ Theaterbesuche organisierte. Zwar stammt Merkel aus einer Pfarrersfamilie, in der Westfernsehen geguckt und SED-kritische Diskussionen geführt wurden. Aber der Mut zum Opponieren fehlte, wie sie selbst einräumt.

Die friedliche Revolution spülte Naturwissenschaftler, Pfarrer, Ingenieure in die Politik der untergehenden DDR. Die Physikerin Merkel war Helmut Kohls Quotenfrau aus dem Osten für das erste gesamtdeutsche Kabinett. Sie habe 1990 auch erwogen, der SPD beizutreten, räumt Angela Merkel ein, bevor sie sich für die CDU entschied - nach deren Wahlsieg. Das passt zum Vorwurf, sie sozialdemokratisiere die CDU indem sie die Ideen der SPD klaue.

Das einstige "Mädchen Kohls" aus der brandenburgischen Uckermark hat von ihrem damaligen Vorbild gelernt und schnell die Spielregeln des Westens verinnerlicht. Die DDR-Jahre spielten nur eine "beisteuernde Rolle", meint der Publizist Nikolaus Blome, der Merkel oft interviewt und auf Reisen begleitet hat. Ausgerechnet die Frau, die ihr politisches Leben in einer ostdeutschen Bürgerbewegung begann, richtet 2008 für Deutsche-Bank-Chef Ackermann eine Geburtstagsfeier aus - im Kanzleramt. "It´s the economy, stupid", der Slogan aus der Wahlkampagne Bill Clintons könnte auch von Angela Merkel stammen, die einst Mangelwirtschaft und ökonomischen Kollaps der DDR erlebte.

Angela Merkel Camping Jugendlich
Camping in Brandenburg: Die junge Angela Merkel.Bild: picture-alliance/dpa/B. Gurlt

Die "gesamtdeutscheste Politikerin"

2005 versichert Merkel ihrem bekanntesten Biographen Gerd Langguth, sie sei zwar in der Jugend von der DDR geprägt, aber "inzwischen bin ich in Gesamtdeutschland mit dem Herzen und im Verstand voll angekommen". Langguth nennt Merkel schon damals die gesamtdeutscheste Politikerin überhaupt: "In Westdeutschland sehen viele in ihr noch eine Ostdeutsche. Und in Ostdeutschland halten sie viele schon für eine Westdeutsche".

Die politischen Leitplanken im Amt sind für Merkel die gleichen wie für ihre Vorgänger und sie achtet darauf, nicht mit ihnen zu kollidieren. Sie sei vorsichtig, besonders in den internationalen Beziehungen, meint der ebenfalls aus dem Osten stammende Linken-Politiker Gregor Gysi. In der Euro-Krise habe sie bewusst im Windschatten ihres Finanzministers Schäuble agiert .

Mutiger ist sie im Verhältnis zu Russland. Während Gauck die Begegnung mit Präsident Putin so weit wie möglich vermeidet, tut die gut Russisch sprechende Kanzlerin das, was sie am besten kann: Verhandeln, Moderieren, Kontakt halten. Angela Merkel ist als Studentin durch die Sowjetunion getrampt. Sie kennt die Russen besser als dies bei Hollande, Cameron oder Obama der Fall ist. Sie mag die Kultur und Seele des Landes, Putin dagegen nicht.

Traum von Amerika und Freiheit

Besonders viel Wert legt sie auf das Verhältnis zu den USA, dem Land ihrer Jugendträume. Als wolle sie in Washington jeden Zweifel an der Bündnistreue einer im kommunistischen Teil Deutschland aufgewachsenen Politikerin ausräumen, unterstützt sie bereits 2003 den Krieg Bushs gegen den Irak. Und viele staunen heute über ihre Nachsicht gegenüber den Lauschangriffen der Amerikaner. Die Idealisierung der USA hat sie mit dem Bundespräsidenten gemeinsam. Für beide war, wie für viele Ostdeutsche, "Amerika" ein Synonym für Freiheit und unbegrenzte Möglichkeiten.

Bundespräsident Gauck hat die westliche "Freiheit" zu seinem Lebensthema gemacht - wohl wissend, dass längst nicht alle seine Begeisterung teilen. In seinen Erinnerungen schildert der 75jährige "mitleidige Blicke", die er nach dem Mauerfall bei westdeutschen Freunden erntete, weil man ihn für naiv hielt "und mich anschaute, als wäre ich gerade aus einer primitiven Kultur zugewandert". Verstehen könne diese Freude an der Freiheit nur, wer sich selbst nach ihr gesehnt habe.