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Erschwerte Integration für "Ankerkinder"

Helena Baers9. Februar 2016

Die Große Koalition will, dass für einen Teil der minderjährigen Flüchtlinge das Recht auf den Nachzug der Familie ausgesetzt wird. Für die Kinder und Jugendlichen hätte das nach Ansicht von Experten negative Folgen.

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Ein 16-jähriger Flüchtling aus Eritrea, steht am 16.10.2014 in Nürnberg (Bayern) am Fenster seines Zimmers in einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/D. Karmann

Krieg in Syrien, kaum Perspektiven in Afghanistan und Terror und Verfolgung in Eritrea - viele Menschen fliehen derzeit aus ihrer Heimat und hoffen in Deutschland auf ein Leben in Sicherheit. Oft sind es junge Männer oder ganze Familien. Manchmal fliehen Kinder und Jugendliche aber auch alleine. Sie werden in Deutschland von den Behörden als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bezeichnet. Mehr als 60.000 Menschen unter 18 Jahren leben nach Angaben des Bundesfachverbands Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (BumF) aktuell ohne ihre Eltern in Deutschland.

Nun soll für einen Teil von ihnen der Familiennachzug eingeschränkt werden. Nach den Plänen der Großen Koalition sollen minderjährige Flüchtlinge mit einem eingeschränkten, sogenannten subsidiärem Schutz zwei Jahre lang warten müssen, bevor ihre Eltern ihnen folgen dürfen. Als subsidiär Schutzbedürftige werden diejenigen bezeichnet, die sich nicht auf das Grundrecht auf Asyl berufen können und auch keinen Schutzstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention genießen, aber dennoch wegen Gefahr für Leib und Leben vorläufig in Deutschland bleiben dürfen.

"Das betrifft tatsächlich nur einige wenige junge Flüchtlinge, weil die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung schon jetzt so hoch sind, dass kaum unbegleitete minderjährige Flüchtlinge davon profitieren können", sagte Niels Espenhorst vom BumF dem Radiosender WDR 5. Im vergangenen Jahr seien pro Monat in durchschnittlich 40 Fällen Eltern nachgeholt worden - und das bezogen auf alle minderjährigen Flüchtlinge.

Und nur ein Bruchteil der minderjährigen Flüchtlinge genießt den sogenannten subsidiären Schutz, um den es jetzt geht: 2014 waren es 214, 2015 laut vorläufiger Zahlen des Bundesinnenministeriums etwa 105 Kinder und Jugendliche.

Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge UMF - Jugendliche, sogenannte "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF)" halten sich am Dienstag (01.02.2011) in ihrem Zimmer eines Asylbewerberheims in München (Oberbayern) auf (Foto: dpa)
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben oft in Wohngruppen mit Jugendlichen, die auch alleine in Deutschland sindBild: picture-alliance/Peter Kneffel

CDU und CSU beharren dennoch darauf, dass der Familiennachzug auch für diese Flüchtlinge ausgesetzt werden soll. "Wir wissen seit Längerem, dass es ein Geschäftsmodell der Schlepper geworden ist, ganz gezielt junge Menschen zu schleusen", sagte der CDU-Vizevorsitzende Thomas Strobl dem Radiosender WDR 5. So würden viele Teenager von ihren Familien auf die lebensgefährliche Reise geschickt. "Das wird ganz bewusst gemacht, um dann später die Familie nachzuholen." Solche minderjährigen Flüchtlinge werden auch als "Ankerkinder" bezeichnet.

Dieses Argument lässt Niels Espenhorst nicht gelten. Es gebe kaum Missbrauch des Rechts auf Familienzusammenführung. "Die Schlepper verdienen daran, wenn wir die Familienzusammenführung verbieten." Wenn der Staat das nicht ermögliche, vertrauten sich Eltern dubiosen Organisationen an "und begeben sich in große Lebensgefahr", so Espenhorst.

Die meisten minderjährigen Flüchtlinge bleiben

So oder so werde davon ausgegangen, dass die meisten minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland blieben, sagte Espenhorst. Angesichts dessen seien die aktuellen Diskussionen über die Aussetzung des Familiennachzugs und auch über Abschiebungen und Ausbildungsverbote ein großes Problem, glaubt der Experte: "Das kommt auch bei den Jugendlichen an." Sie seien sehr verängstigt darüber, was aus ihnen werde.

Ein Teddybär liegt an einem Grenzübergang (Foto: EPA)
Etwa 5000 minderjährige Flüchtlinge werden allein in Deutschland vermisst. Niemand weiß, was mit ihnen passiert istBild: picture-alliance/dpa/H.P.Oczeret

Auch die Menschenrechtsorganisation Terre des hommes kritisiert die Pläne scharf. "Kinder und Jugendliche, die allein auf der Flucht sind, sind natürlich weitaus schutzloser als solche in Begleitung von Erwachsenen. Eine hohe Zahl dieser Kinder ist traumatisiert", sagte Barbara Küppers, Leiterin des Referats Kinderrechte, auf DW-Anfrage. Weil sie stark mit ihrem Trauma beschäftigt seien, könnten sie sich nicht auf neue Kontakte und neue Situationen einlassen. "Sie können sich zum Beispiel oft nicht konzentrieren, sind völlig übermüdet, ängstlich oder aggressiv." Das alles mache zum Beispiel das Lernen einer neuen Sprache oder das Knüpfen von Kontakten zu Gleichaltrigen oder auch Erwachsenen so gut wie unmöglich - "und damit die Integration".

Nach Ansicht von Kinderschutzorganisationen sind die jungen Flüchtlinge ohne ihre Eltern auch anfällig dafür, ausgebeutet zu werden oder auf die schiefe Bahn zu geraten. "Kinder und Jugendliche auf der Flucht haben bereits Vertreibung, Gewalt, oft Tod erlebt. Sie sind anfällig für alle möglichen Versprechungen und so eine leichte Beute", sagt Julia von Weiler von der Kinderschutzorganisation Innocence in Danger.

5000 minderjährige Flüchtlinge verschwunden

Zuletzt hatten Zahlen des Bundeskriminalamts für Aufsehen gesorgt, wonach fast 5000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland verschwunden seien. Laut Familienministerium bedeutet das nicht, dass allen etwas zugestoßen ist. Vielmehr gebe es Probleme bei der Registrierung: Viele unbegleitete Flüchtlinge unter 18 Jahren reisten ohne Ausweispapiere, ihre Identität sei nicht geklärt.

Zudem gingen viele in eine andere Stadt oder ein anderes Land, ohne das anzugeben. Die Behörden wissen also nicht, wo einige minderjährige Flüchtlinge sich aufhalten - ob sie nur zu Verwandten in eine andere Stadt gezogen sind, in die Kriminalität abgerutscht oder Opfer einer Straftat geworden sind.

Damit entziehen sich diese Jugendlichen auch staatlichen Integrationsmaßnahmen und Hilfestellungen speziell für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Niels Espenhorst vom BumF fordert, dass der Staat deshalb nicht auf Abschreckung setzen sollte: "Wenn wir die Jugendlichen wirklich integrieren wollen und uns ihnen annehmen wollen - und wir gehen davon aus, dass die meisten in Deutschland bleiben -, dann sollten wir andere Signale senden." Die Botschaft müsse lauten: "Ihr seid hier, ihr seid in Sicherheit, und wir sorgen uns um eure Zukunft."