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Minuten-Lektüre

14. Juni 2010

Wir lieben lesen. Und sind erstmal zusammengezuckt, als wir gesehen haben, was Rolf Dobelli da anbietet: Buchzusammenfassungen. Wer will denn in Minuten lesen, wofür andere Tage brauchen? Wo bleibt der Zauber?

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Uhrmacherin montiert eine Uhr (Foto: dpa)
Bild: dpa - Bildarchiv

Eine deutsche Tageszeitung hat Rolf Dobelli mal als den Mann bezeichnet, der "heiße Luft aus Büchern rauslässt". Darüber muss er lachen. "Das trifft eindeutig nur auf die Business-Bücher zu", sagt er. Verlage kämen oft auf die Idee, aus einem interessanten Artikel in einem Business-Fachmagazin ein ganzes Buch zu machen. "Da wird dann erweitert und aufgeblasen und die überflüssige Luft lassen wir ab." Rolf Dobelli ist Gechäftsführer der Schweizer Unternehmens "getAbstract". 1999 hat er es mit zwei Partnern gegründet. Die Idee sei ihm beim Joggen am Strand in Australien gekommen: Unter all den zahlreichen Neuerscheinungen auf dem Businessbuchmarkt die guten von den schlechten trennen, zu den guten ein Abstract schreiben, maximal fünf Seiten, und das dann verkaufen.

Bücherstapel (dpa)
Wollen Sie die wirklich alle lesen? Das Abstract könnte entscheiden...Bild: picture-alliance / OKAPIA KG

Funktioniert anscheinend hervorragend. Seit elf Jahren wächst "getAbstract", hat eine Zweigstelle in den USA, bietet Abstracts auf Englisch, Deutsch, Russisch, Spanisch und Chinesisch an und ist der Platzhirsch auf dem Markt der Buchzusammenfassungen, weil das Unternehmen früh Exklusivverträge mit den wichtigsten Verlagen geschlossen hat. Andere haben deshalb kaum eine Chance. Vielleicht auch, weil sie es nicht so gut machen wie die Heerscharen von Journalisten, die nach "getAbstract"-Kriterien jede Woche 50 Business-Neuerscheinungen destillieren, bewerten, die wichtigsten Thesen herauskristallisieren, mit Zitaten belegen und Hinweise zu den Autoren geben.

Attraktiv für Manager

Wer 299 Euro im Monat zahlt, kann sich im Jahr so viele Business-Abstracts herunterladen, anhören oder auf dem Smartphone mitnehmen, wie er möchte. Das sind meistens Großkunden, Firmen, die ihren Mitarbeitern die Abstracts zur Verfügung stellen. Mit ihnen verdient das Team von "getAbstract" sein Butterbrot. Zu Beginn seien die Autoren skeptisch gewesen, sagt Rolf Dobelli, sie hätten gedacht, nun kaufe keiner mehr ihr Buch, weil allen die Zusammenfassung reiche. Die Verkaufszahlen hätten allerdings gezeigt, dass die Abstracts in der Business-Welt die beste Werbemethode für Fachbücher seien.

"Manager und Businessmenschen erreicht man einfach schlecht per Werbung." Inzwischen seien Verlage und Autoren froh, wenn das "getAbstract"-Team Bücher zusammenfasse. Seit fünf Jahren übrigens auch Klassiker der Weltliteratur, Rolf Dobellis Steckenpferd, das allerdings kaum Geld einbringt. Ein Klassiker-Abo kostet zwar auch 199 Euro im Jahr, aber sie werden viel weniger gekauft, oder, wie Dobelli selbst sagt, "sie verkaufen sich sehr, sehr schwierig." Das leuchtet ein, denn eine Zusammenfassung kann schließlich den Lesegenuss nicht ersetzen. "Was wir transportieren können ist die Geschichte, den Plot", sagt Dobelli. "Wir können gewisse Angaben machen zum Stil, zur Herkunft der Idee, der Rezeptionsgeschichte, der Einbettung in die Zeit. Wir können Angaben zum Autor machen, aber die ganze Stimmung, die können wir natürlich nicht vermitteln, das ist klar." Seine Redaktion hat die eigene Motivation, 1000 Klassiker der Weltliteratur zusammenzufassen. Etwa 600 haben sie schon geschafft.

Klassiker als Steckenpferd

Buchcover: Rolf Dobelli - Und was machen Sie beruflich? (Foto: Diogenes)
Dieses Buch gibt es auch als Abstract. Findet Dobelli aber nicht so gut wie sein Original.

"Bei den Wirtschaftsbüchern ist es so, dass es hauptsächlich die Leute lesen, die keine Zeit haben um diese Flut von Neuerscheinungen zu verarbeiten. Bei den Klassikern kennen wir das Profil nicht genau," sagt Rolf Dobelli. Es könnten die intellektuellen Smalltalker sein, die Rüstzeug für den nächsten Stehempfang brauchen. Oder Schüler, die sich damit auf Prüfungen vorbereiten. Vielleicht auch Bildungsbürger, die Anregungen für den nächsten Buchkauf suchen. Rolf Dobelli sagt, er habe zumindest keine Angst, dass er mit seiner Firma das Nichtlesen fördert, weil immer mehr Menschen nur die Zusammenfassungen und nicht mehr die Romane selbst lesen. "Wenn wir im Raum Zürich, wo wir sehr, sehr viele Kunden haben, ein Buch empfehlen, dann verkaufen die Buchhandlungen davon eindeutig mehr als sonst."

Manche Zusammenfassungen von Klassikern machen tatsächlich Appetit auf mehr, bei anderen ist es einfach nur faszinierend zu sehen, wie sie einem in zehn Minuten erklären, wofür andere Jahre brauchen - eine Zusammenfassung der Bibel auf fünf DIN-A4-Seiten zum Beispiel. Dobelli und seine Mistreiter haben eine Marktlücke für eine schnelle und gestresste Gesellschaftsschicht gestopft. Für Menschen, die informiert sein müssen oder denken, dass sie es sein müssen, aber gar nicht die Zeit finden, alles zu lesen, was sie wollen oder sollen. Die Essenz eines Buches erfassen in maximal zehn Minuten: das ist praktisch, aber kein Genuss.

Autorin: Marlis Schaum
Redaktion: Gabriela Schaaf