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"Ich war glücklich"

7. November 2009

Vor zwanzig Jahren war Joachim Gauck evangelischer Pfarrer in Rostock. Jeden Donnerstag ging er auf die Straße. Vom Fall der Mauer wurde er ebenso überrascht, wie später von den Stasi-Akten. Wie ging er damit um?

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Joachim Gauck (Foto: dpa)
Nach der Wende war Gauck Beauftragter für die StasiunterlagenBild: dpa - Bildfunk

DW-WORLD.DE: Herr Gauck, Sie sind vor der Wende schon politisch aktiv gewesen als Pfarrer in Rostock in der evangelischen Gemeinde, was haben Sie am 9. November gemacht?

Joachim Gauck: Oh, das weiß ich ganz genau, ich war auf der Straße. Es war nämlich ein Donnerstag und die Rostocker hatten nicht montags ihre wöchentliche Demo, sondern Donnerstag. Und die Demonstrationen fingen immer in den Kirchen an. Das hängt damit zusammen, dass die Kirchen die ersten überhaupt nutzbaren Räume waren für diese politischen Themen der Erneuerung. Es gab keine Märkte, die wir betreten durften, es gab keine Kinos oder Theater oder Säle, die wir mieten durften. Und ganz spät nachts endete die Demonstration vor dem Rathaus in Rostock, das liegt an der Ostsee und dort waren nun die Menschen zusammen und dann kommt ein Volkspolizist nach Abschluss der Versammlung da zu mir und sagt, Herr Gauck, wir haben im Autoradio gehört, die Mauer soll da in Berlin offen sein und was sagen sie denn nun dazu und da hab’ ich gesagt. Ach ist ja Blödsinn, gehen sie mal weiter ihren Dienst machen als Polizisten und wir demonstrieren jede Woche und dann wird es schon passieren, in ein paar Wochen oder Monaten wird es schon passieren.

Ich ging also danach nach Hause, machte den Fernseher an und dann sah ich das und sofort kullerten mir natürlich die Tränen übers Gesicht und ich war glücklich. Aber, es ist ein schönes Symbol, wissen sie, die Leute waren auf der Straße gewesen seit Wochen, in der Bevölkerung war eine Kraft entstanden, war Angst gewichen und wenn so etwas in einer Gesellschaft passiert, dann fallen auch die Mauern.

Was für eine politische Vision hatten Sie im ersten Moment als Sie hörten, die Mauer ist weg, es kann jetzt etwas Neues entstehen?

Für mich war die Tatsache, dass die Mauer fiel, ein Signal, wir würden sehr bald auf die deutsche Einheit zugehen. Ich konnte mir noch nicht vorstellen, dass es so schnell gehen würde. Aber die Richtung war mir völlig klar und dann tauchten auch sehr bald die ersten Rufe auf, "wir sind ein Volk", nachdem vorher die Losung "wir sind das Volk" dominiert hatte. Eine sehr kraftvolle Ansage gegenüber der kommunistischen Diktatur.

Gauck-Behörde (Foto: dpa)
Nach der Wende hatte jeder das Recht, seine Stasi-Akten einzusehen - Gauck leitete die Behörde als ErsterBild: picture-alliance/ ZB

Sie sind ja dann relativ bald, die Einheit kam ja auch bald, mit den Altlasten der DDR betraut gewesen. War das für Sie ein Schock, als Sie da Einsicht bekamen, was eigentlich passiert ist oder waren Sie darauf vorbereitet?

Ich war vorbereitet und bekam trotzdem einen Schock, denn überrascht waren wir trotzdem und zwar über die Menge der Informationen, die sie gesammelt hatten, über die Menge der Beschäftigten, die in ihren Diensten standen, über 90.000 hauptamtliche Beschäftigte für weniger als 17 Millionen Menschen. Es gibt ein deutsches Bundesland, Nordrhein-Westfalen, das hat so ungefähr die Einwohnerzahl der DDR - man kann sich das gar nicht vorstellen, dass in Nordrhein-Westfalen 90.000 Geheimpolizisten gegen das Volk arbeiten würden und dazu noch immer so rund 150.000 Informanten, also inoffizielle Mitarbeiter wie die Stasi sagte.

Wenn Sie das so eindringlich schildern - haben Sie vielleicht eine Szene oder etwas, das Sie gelesen haben, das Sie besonders schockiert hat?

Ich erinnere mich sehr gut. Ich habe Tränen gesehen und lachende Augen. Neben mir saß, ich war da in diesem Raum und schaute, ob alles läuft, saß ein unbekannter Mann, der bittere Tränen vergoss, weil er an seine Haftzeit denken musste. Er war mehrere Jahre im Zuchthaus und während der Zeit war seine Ehe auseinander gegangen. Tränen. Und an einem anderen Tisch saß ein junger Autor, der schon als Lyriker verfolgt worden war in der DDR, dann im Zuchthaus war, in den Westen freigekauft wurde und der jetzt seine Akten las. Und er freute sich, er strahlte: ha, wunderbar, keiner meiner Freunde hat mich verraten. Er wollte allen einen Dankesbrief schreiben.

Ist denn die Aufarbeitung auch in Ihrem Sinne geschehen oder würden Sie sagen, es hätte besser sein können?

Bei uns haben wir vielleicht auch einen Fehler gemacht, der bestand darin, dass wir nur die Staatssicherheitsbediensteten und auch die Helfer der Staatssicherheit aus dem öffentlichen Dienst heraus geprüft haben. Dieses Verfahren stellt einen partiellen Elitenwechsel dar. Wir haben aber nicht aus dem öffentlichen Dienst entfernt, wer Mitglied der Partei war, so dass die Kommunisten nach dem Systemwechsel eigentlich bruchlos im öffentlichen Dienst weiterarbeiten konnten, es sei denn, sie waren Stasi-Mitarbeiter.

Reporter: Carol Lupu

Redaktion: Anja Fähnle