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Mit 190 km/h in die Katastrophe

Hans-Günter Kellner, Madrid26. Juli 2013

Spanien trauert um die Opfer eines der schwersten Zugunglücke in seiner Geschichte. Mindestens 80 Menschen kamen ums Leben. Hätte das europäische Sicherheitssystem ERTMS die Entgleisung verhindert?

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Die Lok des verunglückten Zuges in der Nähe von Santiago de Compostela (Foto: picture alliance)
Bild: picture-alliance/dpa

Mari hing gerade Wäsche in ihrem Garten in Angrois auf, als "ein Torpedo aus Lärm und Staub auf mich zuraste". So erlebte sie am Mittwochabend (24.07.2013) das Zugunglück, bei dem mindestens 80 Menschen ums Leben kamen und viele weitere Reisende verletzt wurden. Die Unfallstelle liegt nur wenige Kilometer vor der spanischen Pilgerstadt Santiago de Compostela. Die Kräfte, die auf den Hochgeschwindigkeitsexpress wirkten, waren so gewaltig, dass ein Waggon regelrecht abhob und schließlich auf der fünf Meter höher gelegenen Straße landete.

"Überhöhte Geschwindigkeit" steht für viele darum längst als Unfallursache fest. Die spanische Tageszeitung "El País" berichtet von einem Tonbandmitschnitt zwischen dem Lokführer und der Zugleitstelle. Darin sagt der Lokführer, der mit 218 Reisenden besetzte Zug sei mit 190 Kilometern pro Stunde auf die enge Kurve zugerast, für die 80 km/h vorgeschrieben sind. Das Gespräch mit der Leitstelle hat El País zufolge nach dem Unglück stattgefunden, als der Lokführer in den Zug eingeschlossen war und das Ausmaß der Katastrophe noch nicht kannte. "Wenn es Tote gibt, habe ich sie auf dem Gewissen", sagte er.

Blackbox sichergestellt

Die Behörden haben das Gespräch nicht bestätigt, gehen aber ebenfalls von überhöhter Geschwindigkeit als Ursache aus. Auf einem Video einer Überwachungskamera ist zu sehen, wie der Zug zwar schnell in die Kurve einfährt, aber nicht etwa die Lok, sondern zuerst die Waggons aus den Gleisen springen.

Bilder einer Überwachungskamera (Foto: picture alliance)
Bilder einer Überwachungskamera: Als erstes sprangen die Waggons aus den Schienen, dann die LokBild: picture-alliance/dpa

Manuel Nicolás, Sprecher der Eisenbahner im Gewerkschaftsverband Comisiones Obreras, warnt vor voreiligen Rückschlüssen. Selbst wenn der Lokführer eine viel zu hohe Geschwindigkeit zugegeben habe, bedeute dies nicht, dass er seine Schuld eingestehe, so Nicolás. Die Sicherheitssysteme schlössen im Grunde aus, dass eine einzige Ursache solche Folgen haben könne. Weitere Erkenntnisse könne nur die Blackbox liefern. Die hat der Ermittlungsrichter als Beweismittel gesichert.

Modernes Sicherheitssystem fehlte

Allerdings gibt auch Nicolás zu: Ein hochmodernes Sicherheitssystem, das hätte eingreifen können, ist zwar im Zug installiert, aber nicht an den Gleisen in dieser gefährlichen Kurve. Und das, obwohl der Zug kurz vor dem Unglück von 200 auf 80 Kilometer pro Stunde hätte abbremsen müssen. Das "European Rail Traffic Management System" (ERTMS) hätte die Bremsen selbstständig auslösen können. Doch ausgerechnet vor der Unglücksstelle ist an der Strecke nur ein älteres Kontrollsystem installiert, das lediglich Warnhinweise ausgeben kann.

Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Bei der Einfahrt in Städte führen die Lokführer die Züge wieder selbst, sagt Eisenbahner Nicolás: "Wenn ein Zug so stark abbremsen muss, wäre ein paralleles Sicherheitssystem sinnvoll." Juan Jesús García Frailes von der Lokführergewerkschaft fordert darum bereits mehr Investitionen in die Sicherheit auf den spanischen Schienen. Die flächendeckende Einführung des ERTMS hatte die EU-Kommission bereits 2005 beschlossen. Es soll den grenzüberschreitenden Zugverkehr erleichtern. Allerdings ist dafür eine Zeitspanne von bis zu 12 Jahren vorgesehen.

Transponder des europäischen Bahnleitsystems (Foto: Halász István)
Transponder des europäischen Bahnleitsystems: An der Unglückstelle nicht installiertBild: cc/by-sa-Halász István

Drittschwerstes Zugunglück in der Geschichte Spaniens

In Spanien gehört das Streckennetz schon seit 2005 nicht mehr der staatlichen Eisenbahngesellschaft Renfe, sondern dem öffentlichen Unternehmen Adif, um den Wettbewerb im Personen- und Warenverkehr zu fördern. Derzeit werden 1786 Kilometer der Schienen mit dem modernen ERTMS kontrolliert, Adif zufolge mehr als in jedem anderen europäischen Land. Zur ausgebliebenen Installation an der fraglichen Stelle wollte das Unternehmen jedoch nicht Stellung beziehen.

Das Zugunglück vom Mittwoch ist das drittschwerste in der Geschichte der spanischen Eisenbahn. 1944 kamen weit über hundert Menschen ums Leben, als ein Personenzug mit einer Rangierlok in einem Tunnel bei León zusammenstieß. Das Franco-Regime versuchte damals, das Ausmaß des Unglücks zu verschleiern und sprach lediglich von 78 Toten. Bei einem weiteren Zusammenstoß starben 1972 auf der Strecke Sevilla-Cádiz 86 Menschen. Zuletzt entgleiste in Spanien 2006 ein Intercity in der Nähe der Stadt Palencia im Norden des Landes. Sieben Menschen verloren dabei ihr Leben.