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USA Proteste

7. Oktober 2011

Sie haben keine Agenda und keinen Anführer, aber eine Mission: Sie wollen nicht mehr die Zeche der Reichen zahlen. Angefangen hat es an der Wall Street. Inzwischen werden in den USA auch andere Städte "besetzt".

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Transparent mit der Aufschrift "Occupy DC" (Foto: DW)
"Occupy DC" will auf sich aufmerksam machen - nicht nur mit TransparentenBild: DW

Zwölf Uhr mittags auf dem McPherson Square, einem kleinen begrünten Platz mitten im Herzen der US-Hauptstadt Washington. "Jobs, keine Kürzungen" rufen die rund 50 Demonstranten, die sich hier zu einer "Vollversammlung" auf dem Rasen im Kreis gesetzt haben. Zweimal am Tag gibt es diese Versammlungen, in denen die Agenda des Tages besprochen, Verhaltensregeln abgestimmt, Beschlüsse gefasst und Aktionen geplant werden. Es geht erstaunlich organisiert zu in dieser auf den ersten Blick chaotischen Truppe.

Wer reden will, muss sich brav an die Rednerliste halten, darf nicht vom Thema abweichen und auch nicht zu lange sprechen. Auf dem Whiteboard, das jemand organisiert hat, sind die Tagesordnungspunkte der Versammlung festgelegt. Dort ist auch die heutige Aktion zu lesen - ein Marsch durch die Stadt zum Newseum, einem Nachrichtenmuseum, in dem an diesem Nachmittag der Vizepräsident Joe Biden und andere Politiker Ideen austauschen wollen.

Kein Job und keine Wohnung

Legba Carrefour, ein schlaksiger 30-Jähriger, ist seit dem ersten Tag von "Occupy DC", wie sich die Bewegung in Anlehung an "Occupy Wall Street" nennt, dabei. Er lebt in der Hauptstadt und hat Kulturwissenschaft studiert. Sein Lehrerjob an der Uni wurde gestrichen, er wurde entlassen. Um sich über Wasser zu halten arbeitet er an der Garderobe eines Nachtclubs. "Außerdem werde ich gerade zwangsgeräumt." Zwischendurch müsse er immer wieder weg um Anträge zu stellen und sich gegen die Räumung zur Wehr zu setzen.

Legba Carrefour, ein Demonstrant in Washington (Foto: DW)
Legba Carrefour unterstützt "Occupy DC" vom ersten Tag anBild: DW

"Ich halte sehr viel von der Idee," sagt der Amerikaner, der auch noch die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt, "nicht demonstrierend durch die Straßen zu laufen, sondern einen Platz zu besetzen und zu meinem eigenen zu machen." Seine Begründung: "Wenn sie mich aus meiner Wohnung schmeißen und ich dort nicht leben darf, dann mache ich das hier zu meinem Zuhause." Er hat nicht vor, sich schnell vertreiben zu lassen. Am ersten Tag von "Occupy DC", am 1. Oktober, kamen zehn Leute, sagt der schlanke junge Mann mit den schwarzen Haaren und dem Piercing in der Lippe. Jeden Tag würden es mehr. Nächste Woche, ist er überzeugt, werden es schon richtig viele sein, die den Platz besetzen.

"Ein Hoffnungsschimmer"

Die altgediente Gewerkschafterin Leslie findet den Anblick der jungen Leute herzerwärmend. Die 60-Jährige erklärt, in der letzten Zeit hätten es die Gewerkschaften nicht geschafft, faire Bezahlungen und Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Es habe die Unterstützung der breiten Bevölkerung gefehlt. "Ich bin sicher, dass viele meiner Kollegen und Mitgewerkschafter mir zustimmen würden, dass dies hier ein Hoffnungsschimmer ist." Jeder sei betroffen. Es gelte, Amerika für die arbeitende Bevölkerung zurückzuholen. "Wir müssen sicher stellen, dass [die reichen] ein Prozent ihren Anteil zahlen und nicht auf Kosten der anderen 99 Prozent leben, " fordert die Gewerkschafterin.

Die liberale Protestbewegung, die inzwischen auch in Städten wie Boston, Chicago und Los Angeles Ableger hat, braucht die Unterstützung der finanziell gut ausgestatteten und mitgliederstarken Gewerkschaften, sagt der Amerikanist Thomas Vernon Reed: "Bewegungen wachsen am schnellsten, wenn sie auf existierende soziale Netzwerke zurückgreifen können." In den letzten Tagen war zu beobachten, dass die Gewerkschaften sich bei den Protesten von "Occupy Wall Street" engagierten. Sie haben offensichtlich erkannt, dass die Energie der jungen Leute die gemeinsame Sache voranbringt.

Bewegung mit Potential

Gewerkschafter besprechen sich in einem Park (Foto: DW)
Die Generalversammlung von "Occupy DC" findet zweimal täglich stattBild: DW

Reed ist Autor des Buches "Die Kunst des Protests: Kultur und Aktivismus – von der Bürgerrechtsbewegung zu den Straßen von Seattle". Aus der "Occupy Wall Street" Bewegung und ihren Ablegern könnte etwas ganz großes werden, meint er: "Solche Bewegungen starten typischer Weise mit sehr vagen Ideen, sie wachsen mit der Zeit in ihrer Ideologie und ihren Forderungen."

Erst nach und nach würden sie erkennen, wo sie den Hebel ansetzen könnten, um Wechsel zu bewirken. "Auch die Bürgerrechtsbewegung," so Reed, "hatte am Anfang keine klaren Vorstellungen. Es dauerte viele Jahre und viele Demonstrationen, bevor sich die Ideen entwickelten."

Die Frage sei nicht, warum die "normalen" Menschen jetzt auf die Straße gehen, sondern warum das nicht schon viel früher geschehen sei angesichts der zunehmenden sozialen Ungerechtigkeit. Hinzu kommt eine Arbeitslosenquote von über neun Prozent und eine hohe Unzufriedenheit der Amerikaner mit dem Kongress – Demokraten wie Republikanern. Auch vom Präsidenten sind viele enttäuscht.

Viele Protestbewegungen

Am Nachmittag setzt sich die Schar der Demonstranten von "Occupy DC" in Bewegung. Es sind vor allem viele junge Ledige, aber auch junge Familienväter, die noch Arbeit haben, sich aber um die Zukunft ihrer Kinder sorgen. Manche sind von weit hergekommen, um mitzumachen: aus New Orleans und sogar aus Alaska. Es geht die 14. Straße hinunter, quer über den Freedom Plaza, den Friedensplatz – und durch die Beifall spendende Schar einer anderen Protestbewegung, die an diesem Tag zu einer Kundgebung aufgerufen hat und ebenfalls tagelang demonstrieren will. Sie nennt sich "Oktober 2011".

Lisa Simeone gehört zum Organisationskomitee von "Oktober 2011" und es sei absoluter Zufall, sagt sie, dass ihre Aktion mit "Occupy Wall Street" und "Occupy DC" zusammenfällt, und die Proteste deswegen so viel Aufmerksamkeit genießen. Simeone hat schon vor Monaten angefangen, den Protest um den 10. Jahrestag des Kriegsbeginns in Afghanistan zu planen. Doch klar ist: "Wir solidarisieren uns mit 'Occupy Wall Street'." Und man besucht die Demonstrationen der jeweils anderen.

Alte und Junge mit den gleichen Zielen

Anders als die Anti-Wall-Street-Demonstranten hat "Oktober 2011" klare Forderungen: "Die Kriege beenden und die Soldaten nach Hause holen, die Beziehung von Politik und Geld entflechten, denn das politische System in diesem Land ist völlig korrupt und Demokraten und Republikaner sind da völlig gleich." Wofür das Geld, das dadurch gespart werden kann, ausgegeben soll, sei klar, erläutert Simeone: "für Jobs, Wohnungen, Ausbildung, Krankenversicherung und all die Dinge, die den Menschen fehlen."

Demonstranten an der Wall Street (Foto: dapd)
Die Demonstranten kommen aus allen Schichten und AltersklassenBild: dapd

Das Publikum hier auf dem Freedom Plaza ist etwas älter – es sind Gewerkschafter gekommen, Kriegsveteranen, und die "Raging Grannies", die wütenden Omas, die mit cleveren Texten gegen die Macht der Wenigen ansingen. Die 69-jährige Vickie Ryder aus North-Carolina ist eine von ihnen. Sie nutzen das Internet und organisieren sich per E-Mail. Das System arbeitet für die Reichen, sagt sie: "Mein Sohn hatte einen schweren Unfall und brauchte auch zuhause ein Krankenhausbett." Weil die Versicherung sich weigerte, musste sie dafür aufkommen.

99 gegen ein Prozent

Vickie Ryder trägt ein buntes Blumenkleid, einen großen Strohhut, Ohrringe mit dem Friedenssymbol und in der Hand eine Trillerpfeife. Sie ist eine Protest-Veteranin, jetzt ist sie pensioniert und sorgt sich um ihre Sozialversicherung. "Es gibt keine Person in diesem Land, die [von den Sozialkürzungen] nicht betroffen ist, außer vielleicht jene ein Prozent, die immer noch ihren Champagner und ihre Yacht und ihre schicken Autos kaufen können." Die hätten keine Ahnung, wie es den anderen ergehe.

99 Prozent müssen schuften während es sich ein Prozent gut gehen lässt – das ist das zentrale Leitmotiv aller Bewegungen, die in diesen Tagen in den USA für mehr soziale Gerechtigkeit protestieren. Sie schauen nach Ägypten, nach Tunesien und sehen in den dortigen sozialen Unruhen ihre Vorbilder. Nicht ganz zu Unrecht, erklärt Reed, auch wenn die Parallelen zu Ägypten begrenzt seien.

"Die Demonstranten wissen aber, dass die Rezession in den USA einen hohen Preis hat." Täglich würden Menschen an Unterernährung, ungenügender medizinischer Versorgung und anderen Folgen der Armut sterben. Reed weist auf die erschreckend hohe Zahl hin: "15,1 Prozent der Amerikaner leben in Armut, das sind 45 Millionen Menschen."

"Occupy K-Street" – die Straße der Lobbyisten

Nach einem kurzen Stopp vor dem Museum geht es dann den gleichen Weg wieder zurück. Autofahrer bekunden ihre Sympathie durch wildes Gehupe oder strecken den erhobenen Daumen aus dem Fenster. Polizisten sperren routiniert kurz die Straße ab, wenn die auf eine gute Hundertschaft angewachsene Demonstrantenschar über eine Kreuzung läuft oder die Fahrbahn kurzerhand zum Bürgersteig macht. Es bleibt alles friedlich und entspannt.

Der Zug geht vorbei an den noblen Restaurants der K-Street, der Straße der Lobbyisten in Washington. An den schick gedeckten Tischen auf den Bürgersteigen sitzen Männer in dunklen Anzügen, mit Zigarre und einem Glas Wein in der Hand. Sie wollen die milde Abendsonne genießen und schauen nun teils genervt, teils ungläubig und teils amüsiert auf die bunte Truppe der jungen und lauten Demonstranten. "Besetzt K-Street" singen die Demonstranten.

Es gibt noch viel zu tun

Zurück am McPherson Square ist Legba Carrefour zufrieden: "Wir waren auf den Straßen, haben den Verkehr behindert und tolle Slogans gerufen." Dabei ist er nur ein kurzes Stück mitgelaufen und dann in eine Kneipe abgebogen, gibt er zu. Protestieren macht müde. Und schließlich wird er gleich wieder bei der abendlichen Vollversammlung das Wort führen. Es müssen Entscheidungen getroffen werden: Will man am McPherson Square bleiben, oder sich den anderen Protestlern am Freedom Plaza anschließen? Die Stimmung der Versammelten ist eindeutig für dableiben. Sie sind stolz darauf, dass die Bewegung genau an diesem Ort spontan gewachsen ist.

Es wird dunkel. Einige haben sich darauf eingerichtet, die Nacht dort zu verbringen. Ob mitten auf dem Platz oder am Rand muss auch noch entschieden werden. Denn das Gesetz verbietet das Campieren direkt im Park über Nacht, und eigentlich wollen die jungen Demonstranten keine Gesetze übertreten. Gewaltfreiheit ist ihr Motto. In diesem Fall, so hat es den Anschein, wird man aber eine Ausnahme machen. "Und wenn sie uns heute festnehmen," ruft einer, "sind wir morgen wieder da."

Doch erst einmal wird ein Komitee gegründet, das sich mit dieser Frage beschäftigen soll. Auch will man überlegen, wie der Platz so sicher gemacht werden kann, dass auch Frauen ruhig dort schlafen können. Irgendwann will man dann auch mit den anderen Protestbewegungen im Rest des Landes Kontakt aufnehmen. Und gemeinsam Forderungen aufstellen. Es wartet noch viel Arbeit auf die Rebellen von "Occupy DC". Aber der Protest hat ja gerade erst angefangen.

Autor: Christina Bergmann, Washington
Redaktion: Rob Mudge