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Miteinander frönen

Suzanne Cords / (pt)2. November 2002

Der Stammtisch ist eine urdeutsche Erfindung. Die Engländer bezeichnen den Stammtisch als "table reserved for regular guests": Tisch, reserviert für regelmäßige Gäste. Doch der Stammtisch ist mehr als das.

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Gesellig und bierfreudig: der StammtischBild: dpa

Den klassischen Stammtisch findet man im Brauhaus oder in der urigen Eckkneipe, in angesagten Szenelokalen hingegen wird man ihn vergeblich suchen. Meist ist er aus Holz, und in der Mitte thront ein Riesenaschenbecher mit einschlägiger Beschriftung "reserviert", damit auch ja kein Fremder auf die Idee kommt, sich unerlaubt am Stammtisch niederzulassen. Manchmal kann man auf einem großen Schild auch lesen: "Da hocket die, die immer da hocket." (Hochdeutsch: das sitzen die, die immer dort sitzen).

Keinem Wirtshausmöbel verdanken wir so viele sprachlichen Ableitungen wie dem Stammtisch: Stammtischparole, Stammtischgerede, Stammtischtreue, Stammtischkultur, Stammtischpolitik, Stammtischbruder. Nicht zu vergessen den Stammgast und die Stammkneipe.

Lästern in Gesellschaft

Vor allem wird ein Szenelokal wohl nie ein Stück Heimat, also ein Ort, an dem man sich so wohl fühlt wie zu Hause in der vertrauten Umgebung. Im vertrauten Kreis lästert es sich wohl auch besser als mit fremden Leuten. Am Stammtisch wird gerne und mit Ausdauer gelästert. Hinter dichten Qualmwolken sitzen vor immer gut gefüllten Biergläsern regelmäßig die selben Leute zusammen.

Und damit halten sie ein Brauchtum lebendig, das sich als Relikt altgermanischer Volksversammlungen erhalten hat. Die Eingeborenen, der Stamm, treffen sich, um vorzugsweise über "die da oben", also die Politiker, zu lästern und nebenbei noch alle anderen gesellschaftlichen Themen auseinander zu nehmen. Eine typische Stammtischparole, sozusagen eine Art politische Stammtischthese, könnte zum Beispiel lauten: "Unsereins schuftet sich krumm, und die da oben erhöhen uns auch noch andauernd die Steuern."

Lästern am Stammtisch ohne Frauen hat Tradition

Ab dem 19. Jahrhundert saßen am Stammtisch die Stadt- und Dorfhonoratioren beisammen: Amtsrichter, Lehrer, Apotheker, Arzt und Lokalredakteur wetterten gemeinsam gegen die Landesfürsten und ihre Politik. Frauen hatten an einem Stammtisch aus männlicher Sicht nichts zu suchen. Solch patriarchische Zeiten sind längst vorbei, Frauen gründen heute ihre eigenen Stammtische. Auch andere Tische geben sich die "Ehre": politische Stammtische oder Fußballstammtische.

Manche Stammtische sind eine eingeschworene Gemeinschaft, andere haben gegen Nachwuchs nichts einzuwenden. Im Gegenteil, denn laut Statistik ist der durchschnittliche Stammtischler schon etwas in die Jahre gekommen. Der potentielle neue Stammgast muss sich allerdings oftmals erst bewähren, oder er landet auf einer Warteliste.

Trinkfreudig, aber ohne dumme Parolen

Bier
Prost!Bild: Bilderbox

Während der Stammtisch den einen als Inbild der Gemütlichkeit gilt, erklären Erzfeinde der geselligen Runde den Stammtisch gern als Brutstätte des Stumpfsinns, an dem Zechkumpane ausländerfeindliche Vorurteile schüren. Trinkfreudig ja, ausländerfeindlich nein, hat allerdings eine Umfrage eines renommierten Meinungsforschungsinstituts ergeben.

Und überhaupt sind die Sitten am Stammtisch viel lockerer geworden, manche munkeln sogar, er sei bedroht. Weit gefehlt, meine Herren. Es gibt ihn noch, den guten alten Stammtisch, auch wenn heute nur noch jeder zehnte Deutsche hingeht.