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Molenbeek wird zum Forschungsobjekt

Doris Pundy16. August 2016

Der Brüsseler Stadtteil Molenbeek hat seit den Anschlägen von Paris traurige Bekanntheit erlangt. Jetzt lockt der Problembezirk ganz besondere Touristen: Unterwegs mit Stadtführer Erik Nobels.

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Stadtführer Erik Nobels
Bild: DW

"Molenbeek ist echt ein einzigartiger Ort, glauben Sie mir!", ruft Stadtführer Erik Nobels zu Beginn der Stadtführung. Heute führt er gut zwanzig Sozialarbeiter aus Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Österreich und Estland durch den Stadtteil. "An keinem anderen Ort werden Sie so viele Sozialprojekte finden wie hier." Und schnell wird klar was Nobels meint. Hier in der Rue des Ateliers reiht sich eine soziale Einrichtung an die nächste. Es gibt kaum ein Gebäude in der schmalen Gasse, das nicht ein Sozialprojekt beherbergt.

Sozialprojekte Tür an Tür

Erik Nobels hat das Interesse seiner Kunden geweckt. Sie zücken ihre Smartphones und Kameras und fotografieren, was der Stadtführer ihnen zeigt: Jugendzentren, Werkstätten für Arbeitslose, "Co-Working"-Räume und einen gemeinnützigen Ausstellungsraum. Die schiere Menge an sozialen Einrichtungen bringt die Teilnehmer ins Staunen. Einige klingeln an den Türen, nur öffnet heute niemand. Während der Sommerferien sind die Einrichtungen geschlossen. So bleibt es bei einem neugierigen Blick in die zu Spielplätzen umgebauten Hinterhöfe bevor der Tross die Rue des Ateliers verlässt und weiterzieht.

Der Basketballplatz der Jugendeinrichtung Foyer in Molenbeek
Im Jugendzentrum "Foyer" werden Jugendliche am Nachmittag betreut und bekommen Hilfe bei den Hausaufgaben.Bild: DW

Der schlechte Ruf Molenbeeks machte das Viertel zu einem Forschungsobjekt. "Man bräuchte schon fast einen Katalog. Zu jedem Thema, für jedes Problem gibt es eine Initiative oder einen Verein", scherzt Stadtführer Erik Nobels. Der Brüsseler Bezirk ist seit Jahren für seine sozialen Probleme bekannt. Das lockte zahlreiche Sozialarbeiter und Pädagogen ins Viertel. Seit den Pariser und Brüsseler Terroranschlägen mit zahlreichen Verbindungen in den Stadtteil interessieren sich auch Sozialarbeiter von außerhalb Belgiens für den Bezirk.

"Ghettotourismus wie in Südafrika"

"Ich fühle mich hier als würde ich Ghettotourismus in Südafrika betreiben", klagt Sozialarbeiter Jerry. Er ist aus Wien nach Brüssel gereist. Ein Jahr lang haben er und seine Kollegen in ganz Europa Workshops in Schulen zum Thema Integration organisiert. Der Rundgang durchs Brüsseler "Terrornest" ist Teil der Abschlussveranstaltung des Projekts. Der Wiener nimmt nur widerwillig teil. "Wenn Menschen Viertel wie Molenbeek kennen lernen wollen, dann sollen sie es auf eigene Faust tun und ihre persönlichen Erfahrungen machen."

Stadtführer Nobels kann dieser Kritik nichts abgewinnen. Seine Führungen würden von den Anwohnern durchwegs positiv aufgenommen. Ablehnung habe er noch keine erfahren. Auch die Nachfrage scheint ihm recht zu geben. Nobels Kerngeschäft sind Molenbeek-Touren mit Touristen, die den kleinen Nervenkitzel suchen. "Seit den Anschlägen kommen sicher weniger Touristen in die Stadt. Aber die, die kommen, wollen wissen, was hier passiert und die wollen dann auch nach Molenbeek." Sein Geschäft habe unter dem Terror ganz und gar nicht gelitten.

Integrationserfolge

Auf viele Anwohner treffen Erik Nobels Kunden an diesem verregneten Vormittag nicht. Einmal kommt ein älterer Mann in einem muslimischen Kaftan an der Gruppe vorbei. Er hält an, lauscht kurz der Führung, grüßt Nobels und zieht lächelnd weiter. Einige Frauen schieben Kinderwagen durch die sonst leeren Gassen. Der nächste Halt auf Nobels Tour ist ein Sprach- und Beratungszentrum. Hier können Migranten Niederländisch lernen und bei administrativen Problemen um Rat fragen.
Die junge Rezeptionistin trägt ein Kopftuch, ihre Kollegin hat eine dunkle Hautfarbe.

Sozialarbeiter Tito aus Spanien
Sozialarbeiter Tito aus Spanien: "Belgien hat in Sachen Integration schon viel erreicht."Bild: DW

"Das ist genau das, was ich an Brüssel so toll finde!", strahlt Tito. Der junge Spanier zog vor einem Jahr von Saragossa nach Belgien, um in einem Flüchtlingsheim der belgischen Caritas zu arbeiten. "In Spanien würden in einer öffentlichen Einrichtung nie zwei Frauen mit Migrationshintergrund nebeneinander am Empfang arbeiten. Da gäbe es nur Spanierinnen." Belgien habe es in Sachen Integration schon viel weiter gebracht als Spanien, glaubt Tito. Deshalb will er auch in Belgien bleiben.

Nobels Gruppe zieht weiter zum Molenbeeker Wochenmarkt. Gemüse, Obst und Haushaltswaren werden angeboten. Die Sozialarbeiter fotografieren die Besucher des Marktes. Zwei Teilnehmerinnen drehen sogar ein kurzes Video. Zeit, um mit den Bewohnern Molenbeeks ins Gespräch zu kommen, bleibt aber nicht. Das Highlight und gleichzeitig der Endpunkt der Tour wartet noch: Die Sozialeinrichtung "Heksenketel".

Zu viel des Guten?

Hier gleich neben dem Kanal, der Molenbeek vom Brüsseler Stadtzentrum trennt, können Jugendliche im Erdgeschoss Ausbildungen zu Handwerkern absolvieren. Im ersten Stockwerk gibt es ein Restaurant, in dem Molenbeeker Jugendliche Gastronomieberufe, wie Koch und Kellner lernen. Im Hinterhof haben die Auszubildenden großflächig Gemüse angebaut. Auf dem Teller landet, was geerntet wird.

Wochenmarkt in Molenbeek
Der Wochenmarkt in Molenbeek: Zeit für ein Gespräch mit Molenbeek Einwohnern bleibt nicht.Bild: DW

Wenn Erik Nobels normale Touristen durch Molenbeek führt, dann stehen weniger die lokalen Integrationserfolge und -probleme im Mittelpunkt als mehr die Terrorschauplätze. Die Rue des Quatre-Vents, jener Straße, in der die Polizei Salah Abdeslam wenige Tage vor den Anschlägen in Brüssel verhaftete, sowie das Elternhaus des mutmaßlichen Terroristen stehen auf dem Programm.

Von den Touristen, die etwas schaudern wollen, bekommt Nobels trotzdem viel Zuspruch. "Die meisten Leute sind ganz angetan, wenn sie sehen, wie Molenbeek wirklich ist. Viele stellen sich einen traurigen, vernachlässigten Ort voller Krimineller vor und dann sind sie erstaunt, wie viele öffentliche Spielplätze und Jugendzentren wir hier haben."

Die Frage, warum sich bei all dem sozialen Engagement und Integrationserfolgen noch immer Molenbeeker Jugendliche dem radikalen Islam zuwenden, bringt Erik Nobels ins Grübeln. "Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Vielleicht ist es alles zu viel geworden. Vielleicht ist hier in Molenbeek alles etwas zu bunt, zu gut und zu sauber geworden. Viele Jugendliche fühlen sich von dem Angebot nicht angesprochen", sinniert Nobels.