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"Schmerzhafte Pflicht als Venezolanerin"

Jan D. Walter28. Juni 2016

Die Pianistin Gabriela Montero setzt sich für Menschenrechte ein. Amnesty International hat sie dafür zur ersten "Honorarkonsulin" ernannt. Im DW-Interview fordert sie mehr Zivilcourage von ihren Kollegen.

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Die Klavierspielerin Gabriela Montero. (Foto: Shelley Mosman)
Bild: Shelley Mosman

DW: Gabriela Montero, es gibt viele Ansichten über das Verhältnis zwischen Kunst, Gesellschaft und Politik. Welche vertreten Sie?

Gabriela Montero: Zur Rolle des Künstlers gehört mehr, als Schönheit zu vermitteln. Künstler sind Kommunikatoren, sie müssen Geschichten erzählen, die die Menschen bewegen oder gar verletzen - und sonst vielleicht unbeachtet blieben. Für mich bedeutet das, dass ich meine Kunst, meine Stimme und meinen Zugang zur Presse nutze, um auf die Situation in meinem Land hinzuweisen, die international lange nahezu unbeachtet blieb.

Venezuela befindet sich in einer politischen und ökonomischen Krise.

Die Krise in Venezuela betrifft nicht nur Wirtschaft und Politik. Es ist eine humanitäre Krise. Es fehlt an allem. Die Menschen sterben in den Krankenhäusern, weil Basismedikamente fehlen. Und das betrifft alle Venezolaner - unabhängig davon, wie viel Geld sie haben. Teilweise ernähren sich Menschen aus der Mittelschicht von Abfällen, um nicht zu hungern.

Sie wohnen seit Jahren im Ausland - lange Zeit in den USA, jetzt in Spanien. Was antworten Sie denen, die in Frage stellen, ob Sie überhaupt wissen, wie das Leben in Venezuela heute ist?

Venezuelas Kollaps ist sehr offensichtlich. Zuletzt habe ich zwischen 2003 und 2006 in Venezuela gelebt und damals den Beginn des Verfalls miterlebt. Aber ich habe auch noch Familie und Freunde in der Heimat, die mir erzählen, was sie erleben. Ich erhalte täglich Emails von Venezolanern, die mir ihr Leid klagen, auf jedem Konzert treffe ich Landsleute, die mir von Gewalt, Tod, Hunger und Ungerechtigkeit berichten.

Sie haben auf den renommiertesten Bühnen der Welt klassische und zeitgenössische Stücke interpretiert. Aber ihre besondere Gabe sind Improvisation und Komposition. Ihr vielleicht bekanntestes Stück heißt "ExPatria". Haben Sie irgendwann aufgehört, sich als Venezolanerin zu fühlen?

Ganz im Gegenteil. Überall auf der Welt betone ich meine Herkunft. Mit ExPatria will ich das Gefühl ausdrücken, meine Heimat an diesen extremen Zustand zu verlieren. Ich habe das Stück 2011 geschrieben und heute - fünf Jahre später - ist das Gefühl von damals dringender und wahrer denn je.

CD-Cover "ExPatria" von Gabriela Montero
Monteros Album mit "ExPatria" wurde 2015 bei den Grammy Latino Awards zum besten Klassik-Album gekürt

Im Gegensatz zum Theater, den bildenden Künsten und sogar der Pop-Musik gibt es in der klassischen Musik heutzutage keine ausdrücklich politischen Strömungen. In welcher Tradition sehen Sie sich?

Es gibt tatsächlich sehr wenige klassische Musiker, die ihre politischen oder - wie ich - menschlich-sozialen Ansichten äußern. Deshalb spreche ich auch von der humanitären, nicht der politischen Krise in Venezuela. Aber es ist schade, dass das nicht mehr Kollegen tun. Die Cellisten Pau Casals und Mstislaw Rostropowitsch waren im 20. Jahrhundert große Ausnahmen. (Anm. d. Red.: Beide opponierten gegen den Kommunismus, Casals weigerte sich sowohl in der Sowjetunion aufzutreten, als auch in westlichen Ländern, die das faschistische Franco-Regime in Spanien nicht verurteilten.)

Als Pianistin und Komponistin sehe ich mich in der Tradition Mozarts, Beethovens, Liszts und anderer Künstler des 18. und 19. Jahrhunderts, die in ihrer Musik ebenfalls ihre politischen Ansichten ausdrückten. Als Künstler leben wir nicht automatischen auf einer Wolke. Im Gegenteil: Die Kunst ist eine Waffe der Empathie und der Emotion, die man nutzen sollte, um das Bewusstsein der Menschen wachzurütteln.

Ihre Kompositionen sind Instrumentalwerke. Wie funktioniert Gesellschaftskritik ohne Worte?

Die Musik kommt unabhängig von der Sprache beim Publikum an. Aber natürlich können Worte helfen, Dinge zu erklären. Deshalb rede ich auf Konzerten auch zwischen meinen Stücken mit dem Publikum. Aber wenn ich dann improvisiere und darin die Trauer und Hoffnungslosigkeit ausdrücke, die wir Venezolaner derzeit durchmachen, führt das unweigerlich dazu, dass am Ende der ganze Saal weint.

Ende Juni haben Sie in Dortmund eine Auftragsarbeit für das "Klavierfestival Ruhr" uraufgeführt. Das klingt nach harter Arbeit - weniger inspiriert, weniger inspirierend. Stimmt das?

Die Kunst ist nicht meine Arbeit, sondern meine Identität. Insofern sind meine Werke untrennbar mit meiner Person verbunden, und als solche will ich mich in die Gesellschaft einbringen. Mit 18 wollte ich mich als Sozialarbeiterin engagieren, habe mir viele Fragen gestellt und zwei Jahre lang nicht Klavier gespielt. Dann bin ich zur Musik zurückgekehrt und nutze sie heute als Plattform, um mich gesellschaftlich einzubringen. Meine Musik wäre sonst nichts wert. Als Venezolanerin fühle ich die schmerzhafte Pflicht, über das Leid meiner Landsleute zu sprechen - auch derer, die nicht mehr unter uns sind.

Wovon handelt also das neue Stück?

Das "Concierto Latino" ist ein Konzert mir drei Sätzen für Klavier und Orchester. Der erste Satz ist ein Mambo, der zweite ein Andante Moderato mit einem Tango, der sehr lyrisch ist. Der dritte Satz ist ein Pajarillo, das ist ein fröhliches und ur-venezolanisches Thema - eine Hommage an meine tapferen Landsleute. Das Konzert hat sehr viel Energie und Emotion, es ist ein Fest der Schönheiten, die Lateinamerika zu bieten hat, aber es greift auch die dunklen Seiten, die konstanten Bedrohungen auf, denen wir dort ausgesetzt sind. Es beinhaltet Sequenzen, die der sonstigen Stabilität des Stücks zuwiderlaufen. Das ist eine Metapher für die lateinamerikanische Realität.

Gabriela Montero ist Pianistin, Komponistin und Improvisatorin. Ihr Album mit dem Titelwerk "ExPatria", einer Hommage an ihr Heimatland, wurde 2015 bei den Grammy Latino Awards zum besten Klassik-Album gekürt. Im Juni hat sie ihr "Concierto Latino" im Rahmen des "Klavierfestival Ruhr" im Konzerthaus Dortmund uraufgeführt.

Das Interview führte Jan D. Walter.