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"Tragische Entzweiungen türkischer Familien"

Suzanne Cords
18. April 2017

Der Sieg der Ja-Sager beim Verfassungsreferendum der Türkei überrascht nicht, sagt der deutsche Autor Moritz Rinke, der 2016 den Putsch in Ankara miterlebte. Das Ergebnis sei recht fragwürdig zustande gekommen.

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Istanbul Referendum Rede Erdogan Plakat
Bild: Reuters/H. Aldemir

Moritz Rinke, Jahrgang 1967, ist Romanautor und Dramatiker. Die Theaterstücke des Berliners werden weltweit gespielt, zuletzt "Wir lieben und wissen nichts", das in über 50 Ländern aufgeführt wurde. Sein erster Roman "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" erschien 2010 und hielt sich wochenlang in der Bestsellerliste. Seit 2013 ist Rinke mit der türkischen Künstlerin Eylem Özdemir-Rinke verheiratet. Beide waren 2016 in Antalya Augenzeugen, als die türkischen Putschisten sich erhoben. 

DW: Herr Rinke, haben Sie mit diesem Wahlergebnis gerechnet?

Moritz Rinke: Offen gestanden, ja. Das ist natürlich ein Referendum im Ausnahmezustand gewesen, der ja seit dem Putsch im Juli 2016 herrscht und der vermutlich auch in diesen Tagen wieder verlängert wird. Dass der Wahlkampf relativ unfair ablief und die Gegner des Präsidialsystems kaum Gelegenheit hatten, auf die wahren Inhalte einer solchen Abstimmung hinzuweisen - das waren natürlich vollkommen ungleiche Voraussetzungen. Man muss sich das vorstellen wie ein Fußballspiel, in dem die Regierungsmannschaft mit elf Spielern antritt und die Oppositionsmannschaft nur drei Spieler hat, und trainieren dürfen sie auch nicht, und dann müssen sie auch noch barfuß spielen und ohne Sponsor. Und dennoch erreicht diese dezimierte Mannschaft ein Unentschieden, das ist  fast ein positives Zeichen. Allerdings gab es dann drei unberechtigte Elfmeter hintereinander für die Regierung, danach wurde die Oppositionsmannschaft im Keller des Stadions eingesperrt. Im Ernst: Dieses Ergebnis ist zwar ein protokollarischer Sieg für die Regierung, aber wie auch europäische Wahlbeobachter festgestellt haben, doch recht fragwürdig zustande gekommen.

Moritz Rinke
Moritz Rinke fühlt sich der Türkei sehr verbundenBild: Rowohlt Verlag

Sowohl die Opposition als auch die internationalen Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bemängeln, die Wahlen seien nicht rechtmäßig gewesen. Erdogan hat aber schon verkündet, alle Debatten seien jetzt beendet. Glauben Sie, die Opposition, die sogar vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen will, hat eine Chance, das präsidiale Regierungssystem zu verhindern?

Die Türkei lebt im Ausnahmezustand, was soll da ein europäischer Gerichtshof machen, wer in der türkischen Regierung wird ihn ernst nehmen? Jegliche Kritik aus dem Westen nutzt dem Präsidenten. Und was soll eine zahnlose Opposition ausrichten? Sie hat in den letzten vier Jahren seit den Gezi-Park-Protesten Tausende von Steilvorlagen gehabt und hat es nie vermocht, für eine ernsthafte Regierungsalternative zu sorgen, für eine andere Türkei zu werben, im Gegenteil: Sie hat bei der Aufhebung der Immunität einzelner, prokurdischer HDP-Abgeordneter sogar noch mitgewirkt und nun sitzen einige davon im Gefängnis. Die sogenannte Opposition, die sozialdemokratisch-kemalistische CHP, ist auch Ausdruck des Dilemmas in der Türkei, dass es neben Erdogans umgewandelter Ein-Mann-AKP nichts gibt, was eine Alternative böte. Man hofft ja immer so ein bisschen, dass aus der AKP selbst heraus, die Opposition entstehen könnte. Deshalb ist der Ausgang des Referendums ja auch so tragisch, weil man gehofft hatte, dass die kritischen Stimmen in der AKP aus einer Niederlage Erdogans stärker werden könnten. Viele AKP-Gründer sind ja nicht mehr in der Partei. Der Machtzuwachs Erdogans ist nicht im Sinne der eigentlichen Architekten der früheren AKP gewesen.

Gezi Park Istanbul Protest
2013 herrschte Aufbruchstimmung in Istanbul Bild: picture-alliance/dpa

Vor allem in großen Städten haben viele gegen die Verfassungsänderung gestimmt.

Ja, in Istanbul, Izmir, Antalya, sogar in Ankara, der Regierungsstadt ist die Mehrheit gegen eine Verfassungsänderung. Das sind Fakten, die in der doch etwas angestrengt wirkenden Siegesfreude nicht spurlos an einer Regierung vorbeigehen können. Insofern weiß man: Ja, es gibt jetzt zwar eine Verfassungsänderung, aber dieses Land hat auch noch wache und demokratisch gesinnte Menschen, die allerdings in der völligen Spaltung ihres eigenen Volkes leben müssen und auch unsere Unterstützung aus dem Westen brauchen, um nicht aufzugeben. Die Spaltung der Türkei ist eigentlich noch schlimmer als Putsch, Referendum und alles zusammen. Ich kenne türkische Familien, in denen es tragische Entzweiungen gegeben hat, sich Kinder von ihren Vätern losgesagt haben. Das Referendum wurde zu einer Wahl für oder gegen Erdogan, für die Türkei oder gegen die Türkei - und das war so falsch.

Türkei Protest gegen Auszählung des referendums in Istanbul
Proteste in Istanbul nach der Stimmauszählung - Das Referendum hat die Türkei gespaltenBild: Getty Images/AFP/Y. Akgul

Es war eine Wahl zwischen zwei Verfassungen, einer demokratischeren oder einer autokratischen. Es war eine Wahl zwischen einer Türkei, die noch ein Parlament mit Befugnissen, eine Verfassung mit Gewaltenteilung sowie unabhängiger Justiz haben will oder einer Verfassung, die den jetzigen Ausnahmezustand in den Regelzustand verwandelt. Aber was ist aus dem Wahlkampf geworden, auch hier in Deutschland? Ein feindliches, sozio-kulturelles Kriegsszenario, alle schimpfen, fluchen, hetzen, schlagen und sie schießen auch. Wer dagegen ist, ist der Feind. Und stellen Sie sich diese Atmosphäre in Familien vor. Es ist tieftraurig. Und ich weiß nicht, wie die Situation zu besänftigen ist. Man muss jetzt mit viel Geduld versuchen, die Hände irgendwie über die Trennungsgräben zu strecken. Irgendwie. 

63 Prozent der Deutschtürken haben mit "Ja" gestimmt. Erklärungsversuche gibt es viele. Vom Stolz auf Erdogans Leistungen bis hin zu gescheiterter Integration. Es gab heftige Grabenkämpfe - und sogar Bespitzelung. Meinen Sie, die Situation wird sich beruhigen?

Dass über 60 Prozent der hier in Freiheit lebenden Türken für ihre Heimat ein autokratisches System wählen, ist recht bizarr. Und wir könnten uns natürlich fragen, was haben wir hier eigentlich falsch gemacht? Das ist vielleicht nur noch psychologisch zu erklären, dass sich da ein jahrzehntelanger Opfer-Reflex nun in der geschickten Aktivierung durch die türkische Regierung äußert und zur Verfassungsänderung etwa 400.000 Stimmen aus Deutschland beiträgt. Aber kann man da bei drei Millionen hier lebender Türken mit türkischem Pass gleich von misslungener Integration sprechen? Ich glaube, nein, und es würde nur die weitere Spaltung vorantreiben. Man müsste jetzt, im Gegenteil, versöhnen. Gerade wir Kulturleute müssen an das Verbindende erinnern. 

Berlin - Erdogangegner bei Hayir-Kampaqne
"Hayir": Nein-Sager in Deutschland wurden von Erdogans Leuten bespitzelt Bild: picture-alliance/ZUMAPRESS/J. Scheunert

Und dennoch hat Erdogan in den letzten Wochen und Monaten mit Verbalrundumschlägen gegen Europa und vor allem Deutschland gewettert und auch verkündet, den deutschen Journalisten Deniz Yücel nicht aus der Haft zu entlassen. Jetzt hat Erdogan bekommen, was er wollte - wenn auch denkbar knapp. Glauben Sie, er wird sich jetzt im Ton mäßigen und vielleicht sogar Yücel freilassen?

Das hoffe ich sehr. Yücel ist ein leidenschaftlicher Journalist, aber kein Terrorist, wie man in der türkischen Regierung behauptet, und noch gibt es für diese Behauptung ja auch keine Beweise. Ich hoffe natürlich, dass das gewonnene Referendum nun den Präsidenten beruhigt und er eine längst fällige Freilassung Yücels betreibt. Ich würde ihm sogar applaudieren. Dass das aber alles in seiner Hand zu liegen scheint, gibt ja schon einen Ausblick auf die kommende Präsidial-Türkei. Machterhalt bedeutet für diese Türkei natürlich auch, dass man fünf Minuten nach der Verkündigung des Sieges dazu übergeht, die nächsten Schritte zu tun. Wie zum Beispiel die für 2019 vorgesehenen Parlamentswahlen vorzuziehen, denn die sind natürlich unter den wirtschaftlichen Unwägbarkeiten zu weit weg vom Machtzuwachs und Machtzuspruch, den der Präsident durch Putsch und Referendumswahlkampf gewonnen hat.

Das heißt, er möchte jetzt natürlich den Schwung für seine Regierungs- und Staatspartei AKP ausnutzen. Deswegen kann ich mir nicht vorstellen, dass er in einem seiner stillen tausend Kämmerchen in seinem Palast in Ankara sitzt und sich sagt: 'Das Wahlergebnis ist ja doch nicht ganz so gut, ich werde jetzt mal wieder gemäßigte Töne nach Europa an die Opposition senden'. Und wenn er es doch tut, dann wegen des wirtschaftlichen Kalküls. Oder aber er leitet die Finanzströme komplett Richtung Asien, Shanghai Five statt EU. Auf jeden Fall muss er etwas tun, das Land befindet sich im Lira-Verfall. Währungssicherung existiert nicht.

Ihre Frau ist Türkin und hat als Tänzerin gute Kontakte zum Kulturbetrieb in der Türkei. Es gab schon nach dem Putsch-Versuch 2016 Inhaftierungen und Suspendierungen von Autoren und Theaterleuten. Wie sieht die Lage mittlerweile aus?Eine gute Freundin von uns, Meltem Cumbul, ist eine sehr bekannte Schauspielerin und auch Präsidentin der Schauspieler-Gewerkschaft. Diese Gewerkschaft hat jetzt wirklich sehr viel zu tun. Sie erzählte mir kürzlich eine Geschichte, wie zwei kurdische Schauspieler im Südosten der Türkei, in Diyarbakır, entlassen wurden, ihnen aber im Gegenzug ein Job bei der Polizei angeboten wurde. Das ist fast noch absurder als das Absurde Theater. Des weiteren sind natürlich Schriftsteller und Journalisten, Medienhäuser, Universitäten, Anwälte usw. betroffen. Es ist sehr, sehr schwer geworden, in der Türkei frei zu denken und für Künstler und Autoren zu arbeiten.

Türkei Can Dündar Journalist
Can Dündar, langjähriger Chefredakteur der "Cumhuriyet"-Zeitung, lebt im deutschen Exil Bild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Schon mehrere Journalisten und Kulturschaffende haben in Deutschland um Asyl gebeten. Wie kann man ihnen helfen? 

Wir engagieren uns gerade hier in Berlin zusammen mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, mit dem Maxim Gorki Theater, mit dem Deutschen Theater, mit dem Berliner Ensemble und mit vielen Kulturinstitutionen, um zu überlegen, wie wir den nach Deutschland kommenden Türken helfen können. Unterschriften und Appelle an die Bundeskanzlerin oder die türkische Regierung nützen natürlich nur bedingt oder gar nicht, sondern man muss nun versuchen, in Einzelfällen zu helfen und sehen, wie man türkische Künstler hier in Institutionen integriert. Wie viele das sein werden, kann ich nicht sagen, ich bin kein Hellseher. Ich fürchte nur, dass jetzt noch mehr kommen werden. Natürlich sind sie herzlich willkommen, aber es wäre natürlich sinnvoller, die Stimmen, die eine andere, offene Türkei wollen, blieben dort.

Das Gespräch führte Suzanne Cords.

Suzanne Cords Weltenbummlerin mit einem Herz für die Kultur