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Moskau isst lecker, aber schnell

Stephan Hille3. Februar 2004

Eine halbe Minute, so lang beträgt in etwa die Richtwertzeit, die einem Gast in einem beliebigen Moskauer Restaurant zur Verfügung steht, um sich mit Vorspeisen, Salat, Hauptgang und den Getränken Vertraut zu machen.

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Als stünde ein unsichtbarer Manager mit der Stoppuhr im Raum, der die Kellner antreibt: Gast hat sich gesetzt, Speisekarte aufgeklappt, 5, 4, 3, 2, 1, jetzt: "Haben Sie gewählt?", möchte die Bedienung mit gespitztem Bleistift wissen. Schuldbewusst stammelt der Gast, "Ich, äh, weiß noch nicht, äh, könnten Sie vielleicht, ein wenig später, äh, noch mal kommen?" Beinahe mit schlechtem Gewissen, erbittet man sich noch ein wenig Bedenkzeit.

Noch vor wenigen Jahren, war Moskau, von der Provinz ganz zu schweigen, eine kulinarische Wüste. Gutes Essen, war Mangelware. Zwar gab es einige wenige Restaurants, doch sie nur zu betreten, war eine Kunst für sich. Der Zutritt musste sich beinahe erkämpft werden, sei es durch ein kleines Handgeld an den Türsteher oder durch gutes Zureden gegenüber dem übelgelaunten Chef-Kellner.

Schnell - und alles auf einmal

Heute ist das zum Glück anders, in Moskau hat sich eine breite kulinarische Küche entwickelt, vom Italiener bis zum Chinesen, ob indisch oder usbekisch, thailändisch oder mexikanisch, afrikanisch, ukrainisch und natürlich russisch: In Moskau ist alles zu haben. Lediglich die Geschwindigkeit, die dabei dem Gast auferlegt wird, bleibt - zumindest aus westlicher Sicht - ein Rätsel.

Hat der Gast endlich den Wissensdurst der Bedienung befriedigt, folgt die Menüabfolge in aller Regel nicht dem logischen und erwarteten Ordnungsprinzip - Vorspeise, Suppe, Salat, Hauptgang - sondern häufig einer ungeschriebenen Formel, der zufolge offenbar die Summe der bestellten Speisen unter dem Zeitfaktor "n" kleiner oder gleich zehn Minuten auf dem Tisch der Gäste zu landen hat, selbst wenn der dafür vorgesehene Platz kaum ausreicht.

Wer dieses Ordnungssystem beklagt, darf bei einheimischen Bedienungen kaum auf Verständnis hoffen. Offenbar gilt schnell nicht nur als schick, sondern ein geordnetes und zwangsläufig langsameres Nacheinander in russischen Augen als extrem unhöflich. Dieses Prinzip findet in aller Regel seine Vollendung in dem Moment, wo der Gast im Begriff ist, den letzten Bissen zu sich zu nehmen und dabei von den Argusaugen umstehender Kellner oder Kellnerinnen belauert wird. Denn die Bedienungen stürzen genau dann herbei, um den soeben leer gewordenen Teller eilig abzuräumen, auch dann, wenn andere am Tisch noch nicht aufgegessen haben.

Bistro im Bistro

Schneller Service hat Tradition und eine teilweise Erklärung für diese Eile findet man in der Geschichte: Es gilt als historisch verbrieft, dass, als die russischen Soldaten im Zuge der Freiheitskriege gegen Napoleon 1814 in Paris einrückten und sich dort verlustierten, die französischen Kellner auf russisch mit den Worten "bistro, bistro" (auf deutsch: schnell) zur Eile antrieben. Der Legendenbildung nach heißen die französischen Bistros seitdem Bistro.

Befriedigend ist diese Erklärung jedoch nicht, denn dadurch werden gleich zwei Fragen aufgeworfen: Warum hatten es die Soldaten des Zaren damals so eilig? Und, wie wurden die Bistros genannt, bevor die Russen nach Paris kamen?