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Spielball der Mächtigen

Andrea Buchberger 26. Januar 2007

Die Geschichte des Murat Kurnaz enthält alle Elemente für einen atemberaubenden Film. Es geht um die Terroranschläge des 11. September, um die Arbeit von Geheimdiensten und um menschliches Leid im politischen Machtkampf.

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Fernschreibergrafik Berlin

Kurz nach den Anschlägen des 11. September 2001 macht sich ein in Bremen geborener und aufgewachsener junger Türke auf nach Pakistan. Er hat seine islamischen Wurzeln entdeckt und will den Koran dort studieren, wo er ihm näher gebracht werden kann, als in seinem Heimatland Deutschland. Ist Murat Kurnaz bereits radikalisiert? Gehört er zu jener Generation junger, scheinbar integrierter Muslime, die erst Jahre später in Großbritannien Anschläge planen und durchführen? Oder besteht die Gefahr, dass er als Terrorist aus den islamistischen Kaderschmieden Pakistans zurückkehrt? Welches sind seine Motive? Fragen, die vielleicht nicht einmal Murat Kurnaz selber beantworten kann.

Ende 2001 wird er in Pakistan festgenommen, an die Amerikaner ausgeliefert und über ein US-Gefängnis in Kandahar/Afghanistan nach Guantanamo gebracht. Hier findet eine Motivsuche der besonderen Art statt, im rechtsfreien Raum. Daran beteiligen sich, wie erst jetzt bekannt wurde, ganz offenbar auch deutsche Geheimdienstleute. Gemeinsam mit den Amerikanern wollen sie ausloten, ob sich Murat Kurnaz als Spitzel eignet und unter dieser Voraussetzung möglicherweise "freigelassen" und in die deutsche Islamistenszene eingeschleust werden kann. Dieser Teil der Geschichte erzählt von Folter, Leid und Hoffnungslosigkeit und nach allem was der Öffentlichkeit aus den spärlichen deutschen Geheimdienstberichten bekannt ist, von einem Mann, der einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war und deshalb zum Spielball politischer Mächte wurde. Für vier Jahre musste er das Gefangenenlager Guantanamo ertragen. Warum?

Weil er für Spitzeldienste ungeeignet und damit für die Geheimdienste uninteressant geworden ist? Weil ein Restverdacht gegen ihn weiter besteht? Weil die Amerikaner zu hohe Auflagen an seine Freilassung knüpfen?

Weil die Senatsverwaltung seiner Heimatstadt Bremen seine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland "wegen Abwesenheit" des Betroffenen nicht verlängert hat?

Weil er türkischer Staatsbürger ist und formal in die Türkei abgeschoben werden müsste, die ihn aber nicht will?

Weil die damalige rot-grüne Bundesregierung in Bezug auf Guantanamo und den amerikanischen Antiterrorkampf zwar Moral predigt aber Realpolitik praktiziert? Weil erst vier Jahre öffentlicher Entrüstung über die Zustände in Guantanamo später die Zeit reifen ließ für Murat Kurnaz' Freilassung? Quasi ein Geschenk der Amerikaner an die neue deutsche Kanzlerin?

An dieser Stelle tritt ein Mann ins Rampenlicht, den einiges mit Murat Kurnaz verbindet. Auch er scheint irgendwie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein: der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Als Murat Kurnaz in Guantanamo saß, war er im Kanzleramt unter Gerhard Schröder verantwortlich für die Arbeit der Geheimdienste. Bei ihm liefen die Fäden und Informationen auch zum Fall Kurnaz zusammen. Steinmeier muss sich nun dafür verantworten, warum er dessen Freilassung nicht früher forcierte, möglicherweise gar aktiv behinderte.

Antworten auf diese Fragen schlummern vielleicht in geheimen Papieren, die geheim bleiben sollen und so bleibt vorerst nur die nüchterne tagespolitische Frage: Kann es sich die Kanzlerin leisten, im laufenden G8- und EU-Vorsitz den Außenminister zu wechseln? Anders formuliert: Ist der Außenminister tatsächlich so angeschlagen, dass die Bundesregierung ihn nicht mehr halten kann?

Egal wer diese Frage wie beantwortet, Murat Kurnaz bleibt, was er immer war, ein Spielball politischer Mächte. Und wäre nicht Frank-Walter Steinmeier Außenminister, außer Drehbuchautoren und Talkmaster würde sich kaum jemand für sein Schicksal und die vielen offenen Fragen interessieren.