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"Muslime verteidigen, nicht den Islam"

Kersten Knipp12. Juli 2016

Gerade in multiethnischen Gesellschaften wie Frankreich müsse man auf den Prinzipien des Rechtsstaats beharren, sagt die Soziologin Marieme Hélie Lucas. Alles andere untergrabe die Rechte der Schwächeren.

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Betende Muslime in einer Moschee in Frankreich (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/S. Mortagne

DW: Frau Hélie Lucas, Sie gehören zu jenen französischen Intellektuellen, die in der Zeitung "Libération" einen Text mit dem Titel: "Mit aller republikanischen Strenge gegen den radikalen Islam" unterschrieben haben. Bereits in den ersten Zeilen verwahren die Unterzeichnenden sich gegen den Begriff der "Islamophobie". Der Begriff, monieren die Unterzeichnenden, werde gebraucht, um jede Kritik am Islam zu diffamieren. Was hat es Ihrer Auffassung nach mit dem Begriff auf sich?

Der Begriff "Islamophobie" wurde von Vertretern des sogenannten "radikalen Islam" erfunden und verbreitet. Schon darum sollte man ihn am besten nicht verwenden. Die Argumentation seiner Erfinder läuft auf Folgendes hinaus: Wenn man radikale Islamisten, ihre Weltsicht, ihre Handlungen und ihre Verbrechen kritisiert, beziehe sich diese Kritik auf den Islam und nicht auf ihre Positionen. Daraus leiten sie dann das Recht zur Selbstverteidigung ab, und zwar auch unter Einsatz von Gewalt. Sie erklären sich selbst zu den einzig legitimen Vertretern des Islam. Alle, die ihre Meinung nicht teilen, sind für sie "Ungläubige" ("kufr"), die den Tod verdienen. Dazu gehören für sie die meisten Menschen, die in den muslimischen Ländern leben, also alle Muslime, die anderer Ansicht sind als sie, ebenso wie Agnostiker, Atheisten oder Angehörige anderer Religionen.

Demonstration gegen den Aufmarsch Rechtsextremer in Berlin (Foto: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka)
Die Republik vor ihren Feinden schützen. Demonstration gegen den Aufmarsch Rechtsextremer in Berlin im Mai 2016Bild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Sie selbst ziehen es im Hinblick auf diese Gruppen vor, nicht von Vertretern des "radikalen Islam", sondern von der "extremen muslimischen Rechten" zu sprechen. Warum?

Mit diesem Begriff hebe ich weniger die Religion als die politische Positionierung dieser Gruppen hervor - die im Übrigen einiges mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus gemeinsam haben. So teilen sie etwa die Überzeugung, dass sie, anders als die Nazis, zwar keine überlegene Rasse (die Arier), wohl aber eine überlegene Religion (den Islam) repräsentieren. Und wie bei den Nazis gründet die angebliche Überlegenheit auf einer fiktiven glorreichen Vergangenheit. Durch die Berufung auf sie fühlen sie sich berechtigt und zugleich verpflichtet, sogenannte "Untermenschen" physisch zu vernichten. Und wie die Nazis, die für Frauen "Kinder, Küche, Kirche" als angemessene Beschäftigung sahen, sieht auch die extreme muslimische Rechte für die Frauen Haus und Moschee als die ihnen gemäßen Orte vor.

Gibt es Zusammenhänge zwischen der extremen europäischen und der muslimischen Rechten?

Sie haben starke Gemeinsamkeiten. Beide Gruppen arbeiten auf eine Konfrontation hin, wollen ein Blutbad anrichten, um ihre Mitglieder zu radikalisieren und weitere Anhänger zu rekrutieren.

Die extreme Rechte in Europa, die sich auf ihre "weißen" oder "christlichen" Ursprünge beruft, bekämpft nicht den Islam als Ideologie und philosophisch-religiöses Glaubenssystem. Weitaus stärker greift sie Bürger an, die sie aufgrund ihrer Herkunft als "Muslime" definiert, ohne jegliche Achtung vor dem Prinzip der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Wir können die Gefahren, die von der extremen Rechten ausgehen, ebensowenig kleinreden wie ihr starkes Wachstum.

Darum müssen wir all diejenigen, die den Rechten als "Muslime" gelten, verteidigen. Umso mehr, da sie ja eine Minderheit darstellen. Dies müssen wir auf Grundlage der Menschenrechte tun. Hingegen dürfen wir es nicht tun, indem wir den Islam als solchen oder gar denjenigen der extremen muslimischen Rechten verteidigen.

Was ist die angemessene Reaktion auf diese beiden Formen des Rechtsextremismus?

Die europäischen Linken, Liberalen und Humanisten, die diese grundlegende begriffliche Unterscheidung nicht vollziehen, fügen dem fortschrittlichen und humanistischen Widerstand innerhalb der muslimischen Länder selbst erheblichen Schaden zu. Denn letztlich verteidigen sie damit genau diejenigen, die dort die fortschrittlichen Kräfte ermorden. Der Kampf sollte darum an zwei Fronten zugleich geführt werden: gegen die extreme muslimische Rechte auf der einen und gegen die traditionellen Rechtsextremisten und Rassisten auf der anderen Seite. Bei all dem muss man sich auf die universellen Menschenrechte berufen.

Die Unterzeichnenden des in der Tageszeitung "Libération" veröffentlichten Aufrufs beziehen sich auf die Republik als Grundlage des Zusammenlebens. Wofür steht die republikanische Idee?

Derzeit plädiert die extreme muslimische Rechte in Europa auf die Einführung von eigenen Gesetzen und Maßnahmen für religiöse Minderheiten - man denke etwa an die in England bereits tätigen "Scharia-Gerichten", die nun auch die rechten Muslime in Kanada fordern. Angesichts dieser Entwicklung ist es sehr wichtig, die "Republik" zu unterstützen - die "res publica", wie es auf Lateinisch heißt, die gemeinsame Angelegenheit aller Bürger. Man muss daran erinnern, dass die Gesetze in einer Demokratie für ausnahmslos alle Bürger gelten. Alle haben die gleichen Rechte. Diese Rechte werden nicht von religiösen Repräsentanten im Namen eines Gottes ausgegeben. Stattdessen werden die Bürger durch ihre gewählten Vertreter repräsentiert - und nicht durch Priester, Rabbiner, Imame oder sonstige selbsternannte Vertreter religiöser "Gemeinschaften".

Für wie gefährdet halten Sie die Idee der Republik?

Lässt man in einem Staat zu, dass sich unterschiedliche Gemeinschaften auf unterschiedliche öffentliche Ordnungen berufen, führt das dazu, dass nicht alle Bürger die gleichen Rechte genießen. Das widerspricht dem Wesen der Demokratie. So hat eine geschiedene britische Bürgerin vor einem muslimischen religiösen Gericht im Hinblick auf Unterhalt, Sorge um die Kinder, Aufteilung des gemeinsamen Vermögens nicht die gleichen Rechte wie eine Britin, die sich an ein staatliches Gericht wendet. Das Gleiche gilt für das Erbrecht: Die Tochter erhält vor einem solchen Gericht nur die Hälfte dessen, was der Bruder bekommt. Und ein adoptiertes Kind wird von der Erbschaft ganz ausgeschlossen. Viele Beispiele belegen es: Stehen sie vor unterschiedlichen Gerichten, werden sie ungleich behandelt.

Die Republik ist demnach diejenige Ordnung, die für die Rechte der Schwachen eintritt?

Ja. Denn es wäre müßig, zu behaupten, dass sich die Betroffenen aus freien Stücken einem religiösen Gericht unterwerfen. Das anzunehmen hieße, den sozialen Druck zu verkennen, der auf den Frauen lastet, wenn der Staat sie nicht mehr verteidigt. Das für alle Bürger gültige Gesetz kennt nur ein einziges Recht, das für alle gilt. So schützt es gerade die Schwächsten, diejenigen, die am wenigsten in der Lage sind, ihre Rechte gegen die reaktionären Kräfte in ihrer "Gemeinschaft" zu behaupten.

Marieme Hélie Lucas ist Soziologin algerischer Herkunft. Sie ist Gründerin der internationalen Netzwerke "Women living under Muslim laws" (wluml.org) und "Secularism Is A Women's Issue" (siawi.org).