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Politik

Falludschas Elend geht weiter

Judit Neurink ch
26. Juni 2017

Krankheiten, Angst, Misstrauen: Die Narben der Besatzung durch den "Islamischen Staat" sind in Falludscha auch ein Jahr nach der Befreiung überall sichtbar. Judit Neurink hat die irakische Stadt besucht.

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Irak Fallujahs - Ein Jahr nach der Befreiung Fallujahs
Bild: DW/M. Al-Saidy

Die Szenen in Falludscha sind erschütternd. Noch immer werden inmitten des Schutts zerstörter Häuser Leichen gefunden. Wenigstens einmal pro Woche müssen Kinder in dem einzigen noch teilweise intakten Krankenhaus der Stadt behandelt werden, die sich beim Spielen mit Munition verletzt haben oder auf eine Mine getreten sind. "Erst etwa die Hälfte der Stadt wurde bisher von Sprengstoffen geräumt", sagt Hamid Abud Fahd, der stellvertretende Leiter des Krankenhauses, der Deutschen Welle. "Die Regierung hat kein Geld, aber auch der Rest der Stadt muss dringend geräumt und wieder aufgebaut werden."

Nur diejenigen, die es sich leisten können, haben die Lager um die Stadt herum verlassen, um ihre Häuser wieder aufzubauen. In den Lagern leben auch ein Jahr nach der Befreiung noch immer tausende Einwohner. Und selbst dort, wo die Regierung wieder begonnen hat, ihre Beamten zu besolden, ist noch immer kein Geld aus Bagdad in Sicht, um die zerstörten staatlichen Gebäude wieder aufzubauen. 

Seit dem vergangenen Sommer leiden viele Einwohner an Hautausschlag, das Abud vor allem auf die Umweltbelastungen durch Munition aus dem Bürgerkrieg, aber auch auf Stress und Ängste der Menschen zurückführt. Dabei hatte Falludscha auch schon vorher genug mit Gesundheitsproblemen zu kämpfen: Durch die Sprengstoffe, die die Amerikaner nach dem Einmarsch 2003 gegen Al-Kaida verwendeten, trat gehäuft Krebs auf, und viele Kinder kamen mit Missbildungen zur Welt. Selbst der Wachposten vor dem Krankenhaus gibt zu, wegen all der noch herumliegenden Minen fühle er sich "nicht hundertprozentig sicher".

Irak Fallujahs - Ein Jahr nach der Befreiung Fallujahs
Der Wiederaufbau kommt nur in kleinen Schritten voranBild: DW/M. Al-Saidy

Weiterhin Bedrohung durch den IS 

Doch bei den Sicherheitsbedenken geht es um mehr als Angst vor Tretminen: Viele vermuten, dass die Unterstützer des IS immer noch da sind. Hinter vorgehaltener Hand sagen die Bewohner Falludschas, sie hätten nicht allzu viel Vertrauen in die Sicherheitsüberprüfungen, die alle verbleibenden IS-Unterstützer aussieben sollen. Manchmal werden diese Unterstützer einfach nicht in den Computern der Sicherheitskräfte geführt, und manchmal haben sie durch die irakische Sitte, einfach den Namen von Vater und Großvater zusätzlich zum Familiennamen zu verwenden, solche Allerweltsnamen, dass unklar ist, wer wirklich gemeint ist.

Viele Menschen hier halten auch die Familien von IS-Mitgliedern für eine Bedrohung; daher wird ihnen auch der Zutritt zur Stadt verwehrt. Niemand, der einen Ehemann, Vater, Bruder oder Sohn im IS hatte, darf in die Stadt. Die Angehörigen wurden entweder ins nahe gelegene Amiriyah gebracht, oder sie versuchen, sich unter die Zivilisten zu mischen, die während der Kämpfe des vergangenen Jahres in Lager vor den Toren der Stadt geflohen waren.  

"Die Regierung weiß nicht, wie sie mit diesem Problem fertig werden soll", sagt Jamal Naj, Lehrer an einer Schule für Jungen. Wie andere auch, glaubt er, dass das gefährlich ist. Viele der Kinder hätten eine Art Gehirnwäsche hinter sich, und die Isolation und Vernachlässigung könnten zu neuer Radikalisierung führen. "Wir müssen ein spezielles Zentrum einrichten, um ihre Selbstachtung wieder aufzubauen und ihre Verbindungen zum IS zu trennen. Sonst werden sie in Zukunft zu einem neuen IS", sagt Naj.

Irak Fallujahs - Ein Jahr nach der Befreiung Fallujahs
Diese Schule wurde vom IS zerstört, heute ist sie wieder in BetriebBild: DW/M. Al-Saidy

Vertrauen ist ein knappes Gut

Daher unterstützt auch die "Organisation für Mütter und Waisen" Witwen und ihre Kinder, die in den Kämpfen zwischen Al-Kaida und den US-Streitkräften Ehemänner und Väter verloren haben. Die Organisation weist auf die Gefahren hin, die IS-Familien wie Geächtete zu behandeln, egal, wie einzelne Familienmitglieder zur Terrorgruppe stehen. "Welchen Sinn soll es haben, Eltern von Söhnen zu isolieren, die sich gegen den Willen der Eltern dem IS angeschlossen haben?", fragt der stellvertretende Leiter der Organisation, Juneid Khasi Naami.

Die schiitischen Sicherheitskräfte denken anders darüber. Sie halten im Prinzip jeden Sunniten für einen IS-Anhänger und deren Familien deswegen für mitschuldig, ohne dass ein Gericht eine individuelle Verantwortung nachweisen müsste. Und doch erlauben dieselben Sicherheitskräfte manchen dieser Familien, in die Stadt und Gesellschaft zurückzukehren. "Sie kaufen sich ganz einfach ein Papier, dass sie als vertrauenswürdige Zivilisten ausweist. Ich kenne Leute in der Stadtverwaltung, die einen Sohn oder Bruder im IS hatten. Das Geld spricht sie frei", sagt Abdeljabar Hussein von der "Organisation für Mütter und Waisen". Es heißt, einige IS-Mitglieder hätten ihre Freiheit für nur 500 Dollar gekauft und dass gute Kontakte zur Verwaltung einen aus der schwarzen Liste  löschen können.

In Falludscha gibt es die verbreitete Annahme, dass Mitglieder der schiitischen Milizen, die nach der Befreiung in der Stadt geblieben sind, um für Sicherheit zu sorgen, bestechlich sind. "Manche früheren IS-Leute arbeiten heute sogar für Badr (Anm. d. Red.: eine der führenden schiitischen Gruppen)", so Hussein im Gespräch mit der DW. "Sie tragen Waffen, sie gehören zur Regierung. Wem kann man da noch trauen?"

Irak Fallujahs - Ein Jahr nach der Befreiung Fallujahs
Viele Kinder machen das Beste aus der SituationBild: DW/M. Al-Saidy

Falludschas Zukunft

Das Misstrauen scheint sich noch mehr gegen die Milizionäre als gegen die IS-Familien zu richten. "Einige Mitglieder der Sicherheitskräfte machen dasselbe wie der IS. Sie beschädigen Häuser, dann übernehmen sie sie, um selbst darin zu wohnen", sagt Hussein. "Was der IS getan hat, war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn Falludscha eine Zukunft haben soll, kann das nicht so weitergehen."  

Über die Milizen gibt es viele Klagen. Jamal Naj erzählt von der Festnahme eines Bekannten an einem der Kontrollposten vor der Stadt: "Nur weil seine Familie gute Kontakte zur Regierung hat, konnten sie ihn in der geheimen Zelle finden, wo man ihn eingesperrt hatte, und ihn gegen eine Zahlung von 10.000 Dollar freibekommen. Das nenne ich Mafia."

Zur Erbitterung vieler Menschen in Falludscha trägt auch die Tatsache bei, dass die fast 700 Männer, die die Milizen während der Befreiung vor einem Jahr festgenommen haben, immer noch verschwunden sind. "Mein Bruder und zwei meiner Cousins wurden verhaftet. Keiner von ihnen ist bisher wieder aufgetaucht", sagt Kifah Mehemid Nuwaf, der Leiter der Jungenschule. Er und die Lehrer der Schule glauben, dass sie ermordet wurden. "Das ist die neue Zeitbombe, die in Falludscha tickt." 

Doch es geht nicht nur um den IS und die Milizen. "Wir vertrauen auch der Regierung nicht", sagt Mehemid. Nach dem US-Einmarsch von 2003 verloren die Sunniten die Macht an die schiitische Mehrheit, und seit Jahren beklagt sich die sunnitische Minderheit über staatliche Diskriminierung: "Die Regierung verfolgt nur ihre eigenen Interessen. Wir haben hier immer noch keine Versorgungsdienste wie Strom und Wasser. Aber genauso fing es früher an. Genau deshalb hatten damals Al-Kaida und der IS so leichtes Spiel."