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Energiewende

15. Oktober 2011

Deutschland steht vor einem grundlegenden Umbau seiner Energieversorgung: weg von Kohle, Atom und Gas, hin zu Wind, Sonne und Biomasse. Deutschlands Nachbarn verfolgen das mit Interesse - und Zweifeln.

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Zwei Männer unter einem Windrad (Foto: DW-TV)

William D'haeseleer ist Professor für Energietechnik und Direktor des Energie-Instituts an der Universität Leuven. Was sich derzeit beim großen Nachbarn tut, versetzt den Belgier in Erstaunen. Deutschland sei als technologisch hoch entwickeltes Land in der Lage, wirklich viel zu leisten, sagt D'haeseleer. Die Kehrtwende in der Energiepolitik mute für einen ausländischen Beobachter allerdings etwas merkwürdig an. Im Herbst 2010 habe die Bundesregierung noch erklärt, dass die Kernenergie beim Umstieg auf die erneuerbaren Energien noch lange gebraucht werde. Seit Juni 2011 gelte nun plötzlich das Gegenteil.

Deutsche Gründlichkeit?

Das Kernkraftwerk Biblis wurde im März 2011 vom Netz genommen (Foto: AP)
Das Kernkraftwerk Biblis ging im März 2011 vom NetzBild: AP

"Was ist aus der deutschen Gründlichkeit und Tüchtigkeit geworden? Ich hatte immer den Eindruck, dass in Deutschland alles mehrfach überdacht und geprüft wird und man Fakten und Kennziffern erhebt, um einen Sachverhalt richtig einschätzen zu können", sagt der Belgier D'haeseleer. Vernünftiges Abwägen habe im letzten Herbst zur Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke geführt, glaubt der Ingenieur. "Aber dann kam Fukushima. Und seien wir ehrlich, dann kam eine politische Entscheidung."

Eine Entscheidung, die nicht nur der Belgier skeptisch beurteilt, wie eine Umfrage des Weltenergierats unter seinen Mitgliedern zeigt. Das internationale Netzwerk vereint Fachleute aus Unternehmen, Wissenschaft, Umweltorganisationen und Verwaltung. Wird die Energiewende gelingen? Welche internationalen Auswirkungen sind zu erwarten? Kann das Konzept Vorbild für andere sein? Auf diese Fragen erhielt der Vorsitzende des deutschen Länderkomitees des Weltenergierats, Jürgen Stotz, Antworten aus 21 Ländern, darunter 14 aus Europa.

Die Antworten waren deutlich. "International traut kein Experte Deutschland zu, die Ziele des Energiekonzepts vollständig und innerhalb der zeitlichen Frist zu erreichen", so Stotz. Deshalb hält er es für wichtig, das Projekt "zügig und effizient anzugehen". Wenn sich erste Erfolge einstellen, könne das auch andere überzeugen, glaubt Stotz.

Der erste deutsche Offshore-Windpark in der Nordsee ging im April 2010 ans Netz (Foto: AP)
Der erste deutsche Offshore-Windpark in der Nordsee nahm im April 2010 den Betrieb aufBild: AP

Flugzeug ohne Landebahn

Lex Hartmann, Geschäftsführer beim niederländischen Stromnetzbetreiber Tennet TSO muss grundsätzlich gar nicht mehr überzeugt werden. Das Staatsunternehmen hat dem Energieriesen E.ON Anfang 2010 dessen deutsches Hochspannungsnetz abgekauft. Tennet sieht großes Potenzial in Deutschland, da der Ausbau der erneuerbaren Energien ohne einen Ausbau des Stromnetzes nicht funktionieren kann.

"Eine solche Vision, im Jahr 2050 rund 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien gewinnen zu wollen, die kann man schon bewundern. Es ist eine Ambition für eine wirklich wichtige Sache." Hartmann glaubt, das Ziel ist zu erreichen. "Aber wir müssen realisieren, dass wir mit dem Flieger der Energiewende abgeflogen sind, aber immer noch mit dem Bau der Landebahn beschäftigt sind. So schlimm ist es wirklich."

Knapp zwei Jahre ist Hartmann inzwischen in Deutschland, und seine anfängliche Euphorie ist bereits merklich gedämpft. Wenn es beim Netzausbau im bisherigen Tempo weitergehe, dann dauere es noch bis zum Jahr 2400, bis alle notwendigen Leitungen gelegt seien.

Schwierigkeiten überall

Auf Druck der EU-Kommission verkaufte E.ON sein Höchstspannungsnetz 2010 an Tennet aus den Niederlanden (Foto: E.ON und Tennet)
Das Hochspannungsnetz von E.ON ging 2010 an Tennet, auf Druck der EU-Kommission

Sein Unternehmen ist in neun Projekten gleichzeitig damit beschäftigt, Anschlüsse und Kontaktdosen für die Offshore-Windparks zu verlegen - an Land und im Meer. Die Liste der Probleme scheint endlos. "Die Lieferanten können nicht liefern, die Lieferzeit beträgt bis zu fünf Jahre. Die Kapazitäten sind nicht da, die Ingenieure sind nicht da, das Geld ist nicht da. Wir wissen nicht, wie der Strom durch Deutschland geleitet werden soll, es ist nicht klar, wie das vergütet wird." Wenn Fehler gemacht werden, sind gleich alle neun Projekte davon betroffen, so Hartmann. "Und zur gleichen Zeit teilt die Bundesnetzagentur mit, dass die Rendite gesenkt werden soll."

Warum diese Hektik, fragt man sich im Ausland? Allen ist klar, dass sich die Energieerzeugung und der Energieverbrauch ändern müssen, aber dafür müsse es einen gemeinsamen europäischen Weg, eine europäische Dimension geben. "Wir werden dieses System, das sich die Bundesregierung ausgedacht hat, nicht etablieren können, wenn es keine EU-weite Akzeptanz dafür gibt", sagt Ingo Luge, Vorstandsvorsitzender von E.ON Energie, einer Tochter des E.ON-Konzerns. "Wir haben heute bereits Preisbeeinflussungen über die Grenzen hinweg."

Seit der Einrichtung der europäischen Strombörse EEX in Leipzig entwickeln sich die Strompreise überall auf dem Kontinent annähernd gleich. Vor allem in grenznahen Gebieten. Steigen die Preise in Deutschland, dann steigen sie auch bei den europäischen Nachbarn. "Den deutschen Atomausstieg bezahlen auch die Franzosen und die Tschechen mit", so Luge. "Wir werden weitere Entwicklungen dieser Art sehen. Wenn wir auch vom Ausland profitieren wollen, indem wir von dort zu bestimmten Zeiten Strom importieren, dann brauchen wir ein harmonisiertes System. Das sehe ich im Moment überhaupt nicht."

Zweifel bleiben

Debatte im Bundestag zum Atomausstieg am 30.06.2011 (Foto: dapd)
Der Bundestag beschloss am 30.06.2011 den AtomausstiegBild: dapd

Aus ausländischer Sicht wird sich diese Harmonisierung auch nicht dadurch einstellen, dass die übrigen europäischen Länder Deutschland als Vorreiter sehen. In der Umfrage des Weltenergierats lehnen 80 Prozent der Befragten den deutschen Weg als Blaupause für die Welt ab. Schon allein, weil die Experten daran zweifeln, dass die europäischen Klimaschutzziele auf diese Weise eingehalten werden könnten.

Warum muss Deutschland immer bei allem versuchen, Erster zu sein, fragt der belgische Energiewissenschaftler William D'haeseleer? "Das sind dramatische und sehr interessante Zeiten für uns. Es ist verblüffend. Und dass jemand anderes bereit ist, einen dreißig bis vierzig Jahre dauernden öffentlichen Feldversuch zu bezahlen, ist großartig." Die europäischen Nachbarn werden die Entwicklung mit Interesse beobachten, so D'haeseleer. "Ich glaube, das Land muss sich von seiner allerbesten Seite zeigen und sich noch übertreffen." Er wünsche Deutschland dabei alles Gute. Für ihn aber, so D'haeseleer, bleiben noch viele Fragen offen.

Autorin: Sabine Kinkartz
Redaktion: Andreas Becker