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Nachdenken über Europas Kultur

Rainer Traube16. September 2003

Wie geht es politisch und kulturell weiter mit Europa? Knifflige Denksportaufgabe. Um sie zu lösen, kamen Intellektuelle zur Klausur "Think Europe!" in den italienischen Alpen zusammen.

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Eindeutig Old Europe: Blick auf den Comer See von der Adenauer-Villa aus

Der "Alte" kam jeden Sommer, um in Ruhe über sein Europa nachzudenken. Und um ganz einfach Luft zu holen und eine Runde Boccia zu werfen. Konrad Adenauers Villa Collina war das Ferien-Kanzleramt der 1950er Jahre hoch über dem Comer See, mit zwölf Zimmern und freiem Blick auf die lombardischen Alpen. Eine Traumlandschaft, immer noch, mehr "Old Europe" geht kaum. Und wer im Spätsommer 2003 auf Adenauers Terrasse steht, tut sich schwer mit der Einsicht, dass die Welt jenseits der steilen Seeufer sich gerade dramatisch verändert.

Blinde Europäer

Auf Einladung der Bundeszentrale für Politische Bildung und der Europäischen Filmakademie fanden sich nun Denker und Künstler am 13. und 14. September 2003 unter dem Motto "Think Europe!" genau hier zusammen, um über Gegenwart und Zukunft des alten Kontinents zu diskutieren, nachzudenken und zu streiten.

Zülfü Livaneli
Eine Kugel Rollen wie der "Alte": Zülfü livaneli, Starkomponist, vergnügt sich während der "Think Europe" im Garten der Adenauervilla mit Boule, 2003

"Die Europäer machen sich nicht klar, was die Warnung des 11. September für sie bedeutet", rief der Schriftsteller Paul Berman in die Idylle der Europadiskussion, die sich gerade zwischen den deutlich harmloseren Themen europäische Identität und kulturelle Vielfalt eingekuschelt hatte. Für den streitbaren Intellektuellen aus New York sind islamischer Fundamentalismus und arabischer Baath-Faschismus zwei neue, blutige Gesichter eines alten Monstrums: Totalitarismus, Version 21. Jahrhundert. "Europa kann sich in diesem Kampf nicht von den USA abkoppeln", folgerte Berman und der in Bronze gegossene Adenauer blickte ihm mit diesem "Seht-Ihr-ich-habe-es-immer-gewusst"-Ausdruck über die Schulter.

Scherbenpredigt vor dem Dinner

Das war Zündstoff für die Debatten unter den fünfzig Vordenkern und Politikberatern, Filmemachern, Schriftstellern und Journalisten, die am Comer See ein Wochenende lang über Auswege aus Europas politischen und kulturellen Miseren grübelten. Ein Job, den Tariq Ali mit seiner Dinner-Speach nicht leichter machte. Vor Antipasti, Risotto und Scaloppine mussten sich die Gäste vom Guru der Kapitalismuskritik anhören, dass der Westen bisher so ziemlich alles falsch gemacht habe: "Der größte Fehler wäre, wenn Europa die US-Politik nachträglich sanktioniert und auch noch dabei mitmacht". Alis düstere Prophezeiung: Solange der Irak besetzt ist und die Palästinenser keinen eigenen Staat haben, wird es niemals Frieden geben. Europas Think-Tanker nahmen zur Kenntnis, dass Ali gerade exakt das Gegenteilszenario zum New Yorker Berman beschworen hatte, und wandten sich bekümmert ihren Antipasti zu, kulinarischer Trost des Europäers in einer zunehmend ungemütlichen Welt.

Das wurde deutlich in Adenauers Villa: dass die Europäer ziemlich machtlos beim Schlagabtausch der restlichen Welt zusehen. "Solange die Europäer keine gemeinsame Außenpolitik haben, werden sie meines Erachtens auch keinen Einfluss auf die Nahost-Frage haben", sagte Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland.

Balsam und bittere Einsichten

Klar wurde aber auch, dass Europa noch immer Projektionsfläche für aufgeklärte arabische oder asiatische Intellektuelle ist. "Das Beste und Wirkungsvollste was Europa der Welt zu bieten hat, sind sein Idealismus, seine Werte, seine Errungenschaften wie Demokratie und Transparenz" - der indische Historiker und Globalisierungskritiker Dilip Simeon verteilte wenigstens eine Ration Balsam für die erfolgsdurstige Euroseele. Und so freute man sich am Comer See auch herzlich darüber, dass die deutsche Mauerfall-Filmkomödie "Goodbye Lenin" sich gerade zu einer europäischen Erfolgsgeschichte entwickelt. Was hatte der polnische Filmemacher Krzysztof Zanussi der versammelten Denkerschaft gleich zu Beginn um die Ohren gehauen? Europa müsse endlich aufhören, sich im vermeintlichen Glanz der Vergangenheit zu spiegeln und die Gärtchen der kulturellen Vielfalt zu pflegen. "Was wir brauchen, ist mehr Exzellenz. Wir brauchen große Projekte, Kultur mit weltweitem Anspruch. Und mit weltweitem Erfolg."