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Nachtzug nach Milano

9. November 2009

Was ich für Erinnerungen an den 9. November '89 habe? Das habe ich mich bisher noch nie gefragt. Das heißt nicht, dass ich über die Zeit davor und danach nicht sehr viel nachgedacht hätte - und es noch immer tue.

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Zu diesem konkreten Datum taucht jedoch in meinem Gedächtnis nichts auf - und ich krame schon lange und wirklich angestrengt. Es muss ein ganz gewöhnlicher Tag gewesen sein, ausgefüllt mit Schule und Alltag - ich war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt. Bis ca. 19 Uhr deutete ja auch nichts darauf hin, dass dieser Abend ganz und gar außergewöhnlich enden sollte. Die Mauer, diese tödliche und absurde Grenze einfach nicht mehr da?

Wie weit ist es bis Los Angeles?

Mir fällt ein, dass ich mich schon als Kind gefragt habe, warum ein Land sein Volk einsperren muss. Sozialistische Agitation und Propaganda fielen bei mir auf gänzlich unfruchtbaren Boden. Wenn ich auch den üblichen Quatsch in der Schule mitgemacht habe, um mir nicht von vornherein alle Chancen im späteren Leben zu verbauen. Doch eigentlich konnte ich mir schon in jungen Jahren keine Zukunft im Osten vorstellen. Als ich ungefähr 10 war, hieß das große Sehnsuchtsziel Los Angeles, warum, weiß ich nicht mehr genau. Vielleicht weil mein Vater gerade von dort zurückgekommen war, nach Ostberlin. 16 Stunden ging der Flug, das hörte sich an wie 16 Tage, so groß war die Welt? Er arbeitete als Wissenschaftler, er durfte mehrmals im Jahr zu Kongressen ins sogenannte kapitalistische Ausland reisen. Der Tag seiner Rückkehr war immer eine große Sache, mein Bruder, meine Mutter und ich fuhren fein gemacht mit unserem Trabant den weiten Weg über holprige Straßen nach Berlin-Schönefeld, dem Internationalen Flughafen der DDR. Geschichten, Geschenke und Fotos aus der fremden, exotischen Welt ließen meine Neugier und das Fernweh mit jeder Rückkehr meines Vaters größer werden.

Mein wilder, wilder Westen: Ulrike Lachmann

Feind hört mit - oder auch nicht

Musik und Mode waren wichtig, damals mit 12,13. Dank meines westreisenden Vaters und des Intershops empfand ich mich meinen Idolen aus dem Westfernsehen - zumindest klamottentechnisch betrachtet - gar nicht so unähnlich. Doch selber einmal die Orte zu sehen, an denen sich meine Helden aus den amerikanischen Vorabendserien der 80er-Jahre so tummelten - wie sollte das gehen? Darüber jammern konnte man nur im engsten Familien- und Freundeskreis, das habe ich früh kapiert. Privates und öffentliches Leben waren irgendwie zwei verschiedene Dinge. Doch wenn wir Kinder uns in der Schule über die neuesten Abenteuer kalifornischer Kopfgeldjäger unterhalten haben, ist eigentlich auch nichts passiert. Das haben wahrscheinlich irgendwann einfach zu viele gemacht.

Spreek je Nederlands?

Ein Gedanke ist mir am 9. November '89 bestimmt durch den Kopf geschossen: Den engsten Familien- und Freundeskreis noch einmal wieder zu sehen, das war mit dem Fall der Mauer nun durchaus realistisch. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich am 9. November '89 bereits im Westen lebte, richtig weit im Westen, in Rotterdam in den Niederlanden. Dorthin hatte es meinen Vater beruflich verschlagen, als er sich 1985 entschloss, nicht nach Ostberlin zurückzukehren. Drei lange und widrige Jahre später durften wir Zurückgebliebenen endlich nachkommen. Meine ersten Tage im Westen waren dann wirklich wahnsinnig bunt und aufregend, die Realität hielt mit meinen Vorstellungen extrem gut Schritt, überholte sie sogar. Denn kaum über die Grenze fand ich mich in Mailand und Venedig wieder. Wild gestikulierende Italiener, Cappuccino in Stehcafés, ein unendliches Gewusel, es war nicht zu fassen. Das war Abenteuer, das war Freiheit.

Von Ostberlin nach San Francisco

Doch dass der Westen nicht nur aus Abenteuern und Freiheit bestand, stellte sich bald heraus. Vor lauter Euphorie über die Ausreise und das Wiedersehen mit meinem Vater hatte ich vergessen, dass ich meine vertraute Umgebung, Freunde, mein ganzes Leben zurückgelassen hatte. Der Aufprall im Alltag war hart, ich kannte niemanden, konnte mich nicht verständigen, und auch sonst kam mir vieles komisch und fremd vor. Dass ich auf einmal alles sagen konnte, was ich dachte, und vieles kaufen konnte, was ich wollte, ist mir die ersten Monate gar nicht so aufgefallen, ich wollte mich nur irgendwie zurecht finden in der neuen Welt. Das hat dann auch geklappt, etwas später. Und ein Jahr, nachdem ich Ostberlin verlassen hatte, stand ich auf einmal in San Francisco und blickte auf die Golden Gate Bridge.

Autorin: Ulrike Lachmann
Redaktion: Ramón Garcia-Ziemsen