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Nataschas Entführer hatte möglicherweise einen Komplizen

25. August 2006

Der Entführer des in Österreich nach acht Jahren wieder aufgetauchten Mädchens hatte möglicherweise einen Komplizen. Darauf deutet nach Angaben der Polizei die Aussage einer damals zwölfjährigen Augenzeugin hin.

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Das Haus des Entführers Wolfgang PriklopilBild: AP
Österreich Entführer Wolfgang Priklopil
Wolfgang Priklopil ließ sich "Gebieter" nennenBild: AP

Am Tag ihrer Flucht hatte Wolfgang Priklopil seiner Gefangenen gesagt, sie solle das Auto staubsaugen. Natascha tat, wie ihr befohlen. Dann klingelte das Telefon, und weil der Staubsauger so laut war, entfernte sich Priklopil ein wenig von ihr. Es war die Gelegenheit: Natascha nutzte die kurze Abwesenheit ihres Peinigers und rannte davon. Nach acht Jahren in einem Kellerverlies in Priklopils Haus in Strasshof war die heute 18-Jährige wieder in Freiheit. Sie gelangte in einen Garten in der Nachbarschaft und machte die Hausbesitzerin auf sich aufmerksam. Die Frau rief die Polizei. Der 44-jährige Nachrichtentechniker setzte sich darauf hin in sein Auto und fuhr in Richtung Wien davon. Dort warf er sich vor einen Zug.

Jahre im fensterlosen Verlies

Natascha Kampusch wird vorerst von der Umwelt abgeschirmt und rund um die Uhr von einer Polizistin und einer Psychologin betreut, zu der sie Vertrauen gefasst hat. In den ersten Jahren habe sie ihren Entführer mit "Gebieter" ansprechen müssen, sagte die junge Frau. Sie habe Jahre lang das fensterlose Verlies nicht verlassen dürfen. Erst in diesem Frühjahr war Priklopil, der zuletzt keiner geregelten Arbeit nachgegangen sei, offenbar nachlässig geworden - oder auch "frecher", wie ein Kriminalist sagte. Nach eigenen Angaben hat Natascha im Haushalt geholfen und musste Gartenarbeit verrichten.

Der Kidnapper Wolfgang Priklopil hatte das Mädchen am 2. März 1998 auf dessen Weg zur Schule in Wien-Donaustadt verschleppt und seitdem in einem knapp zwei mal drei Meter großen dunklen Verlies unter der Garage seines Hauses gefangen gehalten. Die junge Frau ist blass und verängstigt, wiegt nur 42 Kilo. "Sie ist so dünn", sagte Nataschas Mutter. Unter Tränen schilderten die Eltern das Wiedersehen mit der Tochter: "Mein Papa, ich hab' dich lieb", habe Natascha ihn begrüßt, berichtete ihr Vater Ludwig Koch in der Boulevardzeitung "Kurier". Und gleich die nächste Frage sei die nach ihrem Spielzeugauto gewesen. Das habe er bis heute aufbewahrt - so wie alle ihre Puppen, fügte Koch hinzu, der wie seine Ex-Frau immer daran geglaubt hatte, dass Natascha noch lebt.

Hochgradig sadistisch

Österreich Entführung Haus von Wolfgang Priklopil Zimmer
Nataschas unterirdisches VerliesBild: AP

Die Ermittler spekulieren nun über einen möglichen Komplizen und das Motiv des Entführers. Es werde nicht ausgeschlossen, dass es einen Mittäter oder Mitwisser geben könne, sagten die Ermittler. Eine Freundin des Opfers hatte nach der Entführung im März 1998 ausgesagt, Natascha sei in einen weißen Lieferwagen gezerrt worden, was sich durch die Ermittlungen bestätigt hatte. Die damalige Angabe der Zeugin, sie habe zwei Männer gesehen, führte daher nun zu den Spekulationen in den Medien über einen Komplizen oder Mitwisser. Weiteren Fragen dazu wich die Sonderkommission aus. Dass Ermittlungspannen passiert seien, wies Innenministerin Prokop zurück. Er war bereits wenige Wochen nach der Entführung als Besitzer eines weißen Lieferwagens verhört worden, der als Tatfahrzeug gesehen worden war. Priklopil, der ein Alibi vorweisen konnte, machte damals gegenüber den Ermittlern glaubhaft, er benötige das Fahrzeug während eines Umbaus.

Weder die Ministerin noch die Kriminalisten gingen auf Fragen nach einem möglichen sexuellen Missbrauch ein. Die Polizistin, die Natascha nach ihrer Flucht zuerst betreut hatte, hatte dies bestätigt. Dem österreichischen Fernsehen sagte sie: "Aber ihr ist das nicht bewusst. Sie sagt, sie hat immer alles freiwillig gemacht." Der österreichische Polizeipsychologe Thomas Müller schloss im österreichischen Rundfunk ORF die Möglichkeit eines Komplizen oder Mitwissers nicht aus. Müller sieht bei dem Täter eine "hochgradig sadistische Motivation", da er sein extrem junges Opfer über einen so langen Zeitraum gefangen gehalten habe.

Planvoll, Präzise und Machtversessen

Aus Müllers Sicht charakterisieren drei Kriterien den Täter, der von Nachbarn und wenigen Bekannten als Einzelgänger beschrieben wird: Er sei jemand, der in hohem Maße Macht und Kontrolle ausüben wolle. Dafür spreche, dass er die Bewegungsfreiheit seines Opfers eingeschränkt und das Mädchen in einem Bunker eingesperrt habe. Der Entführer sei zudem sehr planvoll vorgegangen und habe die Tat präzise vorbereitet. Als drittes Merkmal nannte Müller im ORF die extreme Introvertiertheit, gepaart mit Gefühllosigkeit: Der Entführer habe Natascha zu einem Objekt degradiert.

Die Spurensuche am Tatort geht nach Angaben der Kriminalisten unvermindert weiter. In dem Verlies wurde eine Fülle an Material sichergestellt, darunter Bücher, Aufzeichnungen und Videokassetten, die der Täter seiner Gefangenen überlassen hatte. Diese Dokumente würden nun untersucht und ausgewertet, hieß es. Auch ein Computer, der im Haus gefunden wurde, sei beschlagnahmt worden. Die Spurensuche werde noch Tage dauern. Es soll auch untersucht werden, ob noch weitere Menschen Zugang zu dem Versteck hatten. (stu)