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PolitikUkraine

NATO-Gipfel: Zeitenwende für die Verteidigung

11. Juli 2023

Die NATO billigt einen umfassenden Plan zur Neuausrichtung der Armeen. Konkrete Beitrittsversprechen an die Ukraine gibt es jedoch noch nicht. Bernd Riegert aus Vilnius.

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Die Flaggen der NATO und des Gastgeberlandes Litauens
Die Flaggen der NATO und des Gastgeberlandes Litauens: Gipfel spricht über mehr RüstungBild: Beata Zawrzel/NurPhoto/IMAGO

Der Oberkommandierende der NATO in Europa, US-General Christopher Cavoli, hat mit seinem Stab im militärischen Hauptquartier der Allianz im belgischen Städtchen Mons, einen Plan entworfen. Einen großen, einen sehr großen Plan für die Verteidigung des NATO-Gebiets in Europa gegen einen möglichen Angriff Russlands. Es ist der erste umfassende Verteidigungsplan der NATO seit Ende des Kalten Krieges mit der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt vor über 30 Jahren. "Es geht um einen dramatischen Wandel", heißt es von NATO-Diplomaten.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg
Generalsekretär Stoltenberg: Die NATO plant umfassende Abschreckung RusslandsBild: Ludovic Marin/AFP/Getty Images

Die NATO hatte sich nach Ende des Kalten Krieges auf Auslandseinsätze und kleinere Konflikte außerhalb ihres Gebiets konzentriert. Jetzt steht, nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, plötzlich wieder die Landesverteidigung ganz oben auf der Prioritätenliste. "Alles zusammen wird es darauf ankommen, die hier gefundene Einigkeit und Solidarität voranzubringen", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz zum Auftakt des NATO-Gipfeltreffens in Vilnius. "Dazu gehört natürlich auch, dass sich die NATO als Verteidigungsbündnis gut neu aufstellt, denn wir müssen uns ja gegen eine Bedrohung unseres Territoriums wappnen."

NATO billigt Verteidigungsplan

Grundlage für die Neuausrichtung ist der Verteidigungsplan aus dem NATO-Hauptquartier, den die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen der Allianz im litauischen Vilnius gebilligt haben. Der Plan ist detailliert, soll Tausende Seiten umfassen und genau auflisten, welcher Truppenteil aus welchem Land wo eingesetzt werden soll, um einen russischen Angriff abzuwehren.

Bundeskanzler Scholz und Präsident Selenskyj zusammen mit Bundeswehr-Soldaten
Bundeskanzler Scholz (li.), Gast Präsident Selenskyj: Mehr Hilfen, aber noch keine Einladung zur NATO-Mitgliedschaft (Archiv)Bild: The Presidential Office of Ukraine/SvenSimon/picture alliance

Die Einzelheiten der militärischen Planung sind geheim. NATO-Diplomaten bestätigen aber, dass die Soldaten und Einheiten, die in dem Plan bewegt werden, zu einem großen Teil nur auf dem Papier, aber noch nicht in der Wirklichkeit existieren. Die Armeen in vielen Staaten Europas sind geschrumpft, verfügen nicht mehr über ausreichend große kampfbereite Verbände oder haben nicht genügend Personal.

Mehr Truppen nötig

All das müsse sich ändern, so die NATO-Planer, damit man sich verteidigen könne. Rund 300.000 Soldatinnen und Soldaten will die NATO aufbieten können, um das "russische Monster", Zitat Litauens Staatschef Gitanas Nauseda, aufhalten zu können. Gefragt sind jetzt wieder, wie zu Hochzeiten des Kalten Krieges Panzerverbände, Artillerie, Raketenabwehr und eine Luftwaffe, die die Bodentruppen unterstützen kann. Das Ganze auch noch digitalisiert und vernetzt mit der militärischen Führung.

Da auch große Staaten wie Frankreich, Großbritannien oder Deutschland nur wenig zu bieten haben bei diesen Anforderungen, sind die europäischen NATO-Partner vor allem auf Verstärkung aus den USA angewiesen. Nötig ist deshalb eine hohe Mobilität und die Möglichkeit, Truppen schnell von Westen an die Ostflanke der NATO, in den hohen Norden, aber auch ans Schwarze Meer verlegen zu können. Bei der Mobilität hapert es zurzeit noch. Die Zeiträume, die die Truppen zum Aufmarsch brauchen, muss verkleinert werden, hat Oberbefehlshaber General Cavoli wohl in seine Planung geschrieben.

Höhere Verteidigungsausgaben

NATO-Diplomaten erklären, da helfe nur üben und nochmals üben. Mehr Manöver und größere NATO-Führungsstäbe in auszubauenden Hauptquartieren seien nötig. Die Staats- und Regierungschefs der Allianz haben erkannt, dass sie vielmehr Geld als bisher in die Hand nehmen müssen, um die neuen Rüstungsziele, die neuen Truppenstärken und hohe Mobilität zu erreichen. Sie legten deshalb fest, dass zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zukünftig die Untergrenze für Verteidigungsausgaben sein sollen.

Seit 2014, seit dem ersten Überfall Russlands auf die Ostukraine, war das Ziel, diese zwei Prozent überhaupt zu erreichen. Das haben bislang nur elf der mittlerweile 31 NATO-Staaten geschafft. Deutschland soll im kommenden Jahr die zwei Prozent-Marke erstmals erreichen, bestätigte Bundeskanzler Olaf Scholz in Vilnius. Das gelingt aber nur, weil das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr in die Berechnung einbezogen wird. Wenn das Sondervermögen ausgegeben sein wird, wird der deutsche Verteidigungsetat nach der derzeitigen mittelfristigen Finanzplanung des Bundes wieder absinken.

Ostflanke verstärken

Die NATO will parallel zum großen Verteidigungsplan ihre Ostflanke, also die Staaten von Finnland im Norden bis hin zu Bulgarien im Süden, weiter stärken. Es gibt mittlerweile acht Kampfgruppen der NATO an der Ostflanke, die aber nur Batallionsstärke (ca. 1000-1500 Personen) haben. Sie sollen mindestens auf die dreifache Größe, auf eine Brigade nachwachsen. Deutschland ist das erste Führungsland in einer solchen vorgeschobenen Kampfgruppe der NATO, die die Bereitstellung einer Brigade konkret angekündigt hat. Außerdem sollen mehr Einheiten in höhere Bereitschaft versetzt werden, damit sie innerhalb von Tagen und nicht wie bisher Monaten nach Osten verlegt werden könnten.

Plakataktionen in Vilnius rufen zur Hilfe für die Ukraine auf
Solidarität in Vilnius: Plakataktionen rufen zur Hilfe für die Ukraine aufBild: Bernd Riegert/DW

Neben der eigenen Verteidigung müssen die NATO-Staaten zunächst vor allem die Ausrüstung und Versorgung der von Russland angegriffenen Ukraine gewährleisten. In Vilnius beim Gipfeltreffen kündigte Deutschland an, weitere 700 Millionen Euro für Munition und Waffen bereitzustellen. Frankreich will weitreichende Raketen an die Ukraine liefern, die von Flugzeugen aus hinter die russischen Linien geschossen werden können. Die USA werden die umstrittene Streu-Munition liefern. Gesprochen wird erneut über die Bereitstellung von F-16 Kampfflugzeugen aus US-Produktion, die die Ukraine dringend verlangt. Bislang haben einzelne NATO-Staaten aber nur die Ausbildung von ukrainischen Piloten in den F-16 in Aussicht gestellt. Flugzeuge wurden von einer "Kampfjet-Koalition" noch nicht geliefert.

Enttäuschte Erwartung

Am Mittwoch soll der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zum ersten Mal an einer Sitzung des neu geschaffenen NATO-Ukraine-Rates teilnehmen, um über die weiteren Schritte zu einem Beitritt der Ukraine zum Bündnis zu beraten. Eine förmliche Einladung zu einem baldigen Beitritt wollen die NATO-Chefinnen und Chefs wohl nicht aussprechen. Am genauen Text der Ukraine-Erklärung feilen die Diplomaten noch. Es solle aber ein "klares Signal" geben, dass die Ukraine Mitglied der NATO werden wird, kündigte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg an. Nur wann und zu welchen Bedingungen sei noch die Frage.

Der ukrainische Präsident reagierte relativ sauer auf das Ausbleiben einer förmlichen Einladung. Er hatte mehr erwartet und schrieb auf dem Weg nach Litauen auf Twitter: "Es ist ohne Beispiel und absurd, wenn es keinen Zeitplan gibt weder für die Einladung noch für die Mitgliedschaft der Ukraine." Daraus ziehe nur Russland Vorteile, warf Selenskyj den "geschätzten Alliierten" vor. "Unsicherheit ist Schwäche. Das werde ich auf dem Gipfel offen diskutieren."

 

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union