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Notunterkünfte verkommen zu Slums

Simone Utler, z. Zt. Kathmandu28. April 2016

Auch ein Jahr nach dem Erdbeben in Nepal haben Millionen Menschen noch keine Wiederaufbauhilfe bekommen und kein Dach über dem Kopf. Unzählige hängen in Lagern fest, die immer mehr zu Slums verkommen.

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Hütte aus Wellblech in Nepal (Foto/DW/S.Utler)
Bild: Simone Utler

Kanchi Subedi hat ein Erdbeben überlebt und fristet jetzt ihr Leben in einer Dreckwüste. Die winzige Frau mit dem grauen Haar hockt auf einer umgedrehten Schublade, um nicht ganz im Staub zu sitzen. Wenn ein Windstoß Sand über das Feld in ihr Gesicht pustet, hält sie sich ihre runzeligen Hände vor die Augen. Ansonsten fliegen die Hände durch die Luft, während die 63-Jährige von der Erdbebenkatastrophe in Nepal und ihrem jetzigen Leben erzählt.

Kanchi Subedi und ihre Familie hausen seit fast genau einem Jahr in einem Camp auf einer Freifläche in Chuchepati, einem Stadtteil am nordöstlichen Rand Kathmandus. Auf der Erhöhung zwischen zwei Hauptverkehrsstraßen stehen hunderte Verschläge aus Planen, Wellblech, Brettern und Pappe. Sie werden von Bambusstangen gestützt, sind mit Seilen zusammengebunden und mit Steinen beschwert, damit der Wind nicht alles wegreißt. Auf dem sandigen Boden liegt Müll, ausgemergelte Küken suchen fiepend etwas Nahrhaftes, Kinder streunen in der Gegend umher.

Wie Millionen Nepalesen hat Kanchi Subedi am 25. April 2015 ihre Lebensgrundlage verloren. Sie kommt aus einem Dorf in Sindhulpachok, einem vom Erdbeben besonders schwer getroffenen Distrikt. Als die Erde bebte, war sie im Erdgeschoss ihres Hauses und krabbelte unter ihr Bett. Das Dach und die Wände des Hauses stürzten ein, Kanchi Subedi konnte sich aus den Trümmern befreien. Danach hatte sie lediglich Krämpfe in den Beinen.

Die meisten Helfer sind längst wieder weg

Landesweit starben bei den Beben am 25. April und 12. Mai 2015 fast 9000 Menschen, 22.000 wurden verletzt. Kanchi Subedi machte sich am Tag nach dem ersten Beben auf Anraten ihrer Tochter, die in Kathmandu lebte, auf den Weg in die Hauptstadt. Die Familie zog auf das Feld von Chuchepati - wie Tausende Andere. Landesweit wurden fast 900.000 Häuser zerstört oder beschädigt.

In Chuchepati bekamen die Menschen schnell Hilfe. "Hier waren so viele verschiedene Hilfsorganisationen", erinnert sich Kanchi Subedi. Eine brachte Bettgestelle aus Plastik, Teppiche und Geld für Reis, andere die Planen für die Zelte und Decken, weitere kümmerten sich um Toiletten und Wasser. „Doch heute ist niemand mehr hier. Die Toiletten sind kaputt, die Krankenstation wurde geschlossen, Licht gibt es nur mit Solarlampen“, beklagt sich die alte Frau.

Was als temporäre Notunterkunft gedacht war, hat sich inzwischen für etliche Menschen zu einer Dauerlösung entwickelt. Es sind jene hängengeblieben, die bei dem Beben alles verloren haben und nicht mehr nach Hause können oder wollen. Noch immer haben laut Rotem Kreuz vier Millionen Nepalesen kein festes Dach über dem Kopf. Auf dem Feld in Chuchepati entsteht eine neue Form von Elend.

Nepal nach Erdbeben - Kathmandu Slum (Foto: DW/S.Utler)
Kanchi Subedi lebt zusammen mit zwei Töchtern, einem Schwiegersohn und vier Enkelkindern in zwei ZeltenBild: DW/S. Utler

Was bisher in Nepal offiziell als Slum gilt, sind Siedlungen, die meist in den Städten an den Ufern der Flüsse zu finden sind. Die Flüsse sind extrem verdreckt, es stinkt unsäglich und auch hier gibt es zum Teil weder Strom noch Wasser - aber laut UN haben die Menschen zumindest eine Besitzurkunde für das Land oder mieten es. Viele der Menschen haben sich schon vor Jahrzehnten dort niedergelassen und an einigen Stellen Steinhäuser mit Toiletten und Stromanschluss errichtet. Eine besondere Gruppe sind die sogenannten Sukumbasi: Sie haben einfach Land besetzt - oft in der Nähe von Müllhalden oder Ghats - und hausen dort unter schlimmen Bedingungen. Rechtlich gesehen sind sie und die Menschen in den ehemaligen Notunterkünften in der gleichen unsicheren Lage, da sie jederzeit vertrieben werden könnten.

Von der Notunterkunft zum Slum

"Hier in Chuchepati ist ein Ort entstanden, an dem sich jetzt arme Menschen aus der ganzen Stadt einfinden. Viele haben nach den Beben ihren Job verloren, haben jetzt kein Geld mehr und können keine Miete bezahlen", sagt Yangji Sherpa, die sich ehrenamtlich im Lager von Chuchepati engagiert. Ihren Schätzungen zufolge lebten in den Wochen nach den Beben rund 7000 Menschen dort in Notunterkünften, heute sollen es ihr zufolge noch etwa 1700 sein. Belastbare Zahlen gibt es aber nicht.

Yangji Sherpa sitzt wie jeden Tag unter einer weißen Zeltplane und kümmert sich um eine möglichst gerechte Verteilung der immer rarer werdenden Hilfsgüter. "Manchmal bringen Touristen noch Obst oder Schokolade - oder mal einen Sack Kartoffeln", sagt Yangji Sherpa. Sie führt zwei Bücher über die Familien und die Einzelpersonen, die auf dem Feld leben, in einem dritten vermerkt sie Besucher und Spender. "Zuerst bekommen körperlich benachteiligte und alte Menschen Hilfe."

Trotz Spenden aus aller Welt in Höhe von 4,1 Milliarden US-Dollar, hakt es beim Übergang von der Soforthilfe zum Wiederaufbau. Nepals Wiederaufbaubehörde, die den Prozess koordinieren soll, kommt nur langsam voran - mangelnde Unterstützung der Regierung wird zumeist als Grund genannt. Lediglich einige Familien sollen bisher einen Teil der 200.000 Rupien erhalten haben, die jeder Familie, die ihr Haus verloren hat, vom Staat versprochen wurden.

Auch in Bhaktapur hängen viele Menschen fest. Die Armensiedlungen dort sind kleiner und weniger verdreckt, aber auch hier fühlen sich die Menschen vergessen und übergangen. „Wir haben gehört, dass so viele Spenden aus dem Ausland gekommen sind. Aber von dem Geld ist bei uns ganz unten nie etwas angekommen“, sagt Shyam Krishna Kaslawat. Der 52-Jährige lebte mit seiner Familie früher in einem Haus in Bhaktapur und haust nun in einer ovalen Wellblechhütte. Im Vergleich zu den Zelten von Chuchepati sind diese Hütten stabil und schmuck, aber auch hier leben vier bis acht Familienmitglieder aus drei Generationen auf engstem Raum. Im Winter war es kalt, im Sommer ist es heiß. "Wir wollen wieder ein normales Leben haben", sagt Kaslawat. "Wir wollen nicht mehr in diesem Slum leben."

Nepal ein Jahr nach dem Erdbeben (Foto:DW/S.Nestler)
An vielen Orten in Nepal ist die Zerstörung auch ein Jahr nach dem Beben noch allgegenwärtigBild: DW/S. Nestler

Kein Vertrauen in die Regierung

Nepals Regierung nutzte das Gedenken an die Katastrophe für große Versprechen. Am Sonntag, an dem sich in Nepal aufgrund des hier geltenden Mondkalenders das erste verheerende Erdbeben jährte, legte Premierminister Khadga Prasad Sharma Oli laut "Kathmandu Post" in Sindhupalchok den Grundstein für ein Haus. Präsidentin Bidhya Devi Bhandari war in gleicher Mission in Ghorka unterwegs. Die Nationale Planungskommission verkündete der Zeitung zufolge die Namen von 300.981 Heimatlosen, die nun zeitnah entschädigt werden sollen.

Die Menschen sind skeptisch. "Ich weiß nicht mal, ob die von der Regierung wissen, dass wir hier sind. Niemand hat jemals mit uns gesprochen", sagt Buddha Man Tamang, der auch in Chuchepati festsitzt. Der 52-Jährige fällt auf in dem Camp. Mit seiner grauen Weste, der passenden Hose und dem Gürtel mit der mächtigen silbernen Schnalle sieht er wohlhabender aus als die meisten Campbewohner. Aber auch er hat beim Beben sein Haus und seine Lebensgrundlage im Distrikt Dolakha verloren. Zusammen mit seiner Frau, seinen beiden Töchtern und seinem Sohn lebt er in einer selbstgebauten Hütte aus Wellblech.

Tamang und seine Familie belastet in Chuchepati vor allem die Unsicherheit und die schlechten hygienischen Bedingungen. "Meine Frau und meine Töchter haben schon Magenprobleme", sagt der 52-Jährige. Nachts trauten sich die Frauen nicht zu den Toilettenhäuschen und tags müsse immer jemand im Zelt sein, weil Diebe unterwegs seien.

"Wir hören immer nur Gerüchte, wie es weitergehen soll", sagt Tamang. Einige Gerüchte besagen, dass die Regierung die Menschen von dem Gelände vertreiben wird, sobald es keine Nachbeben mehr gibt. Tamang will nicht mehr warten und nun das Schicksal seiner Familie selbst in die Hand nehmen. Vor einem Monat hat er gegenüber des Lagers einen kleinen Teestand eröffnet: "Nun", sagt er, "brauche ich nur noch Kunden."