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Neue Chance für EU-Befürworter?

Baha Güngör16. Juli 2002

Die Vorsitzenden der drei türkischen Koalitionsparteien haben sich am Dienstag (16.07.) auf Neuwahlen im November geeinigt. Zuvor hatte die Regierung von Ministerpräsident Ecevit ihre Mehrheit im Parlament verloren.

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Die Frage lautete längst nicht mehr ob, sondern wann Bülent Ecevit endlich das Amt des Ministerpräsidenten räumen wird. Der 77jährige kranke Politiker hätte sich die Selbstdemontage und der Türkei schwere Zeiten ersparen können, wenn er rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt und dementsprechend gehandelt hätte. Jetzt aber ist der Schaden so groß, dass es vielleicht Jahre dauern wird, ihn zu beseitigen und dem Land wieder eine optimistische Zukunftsperspektive zu geben.

Ecevits Koalitionspartner, der Rechtsnationalist Devlet Bahceli hat sich mit seinem Ziel durchgesetzt: Neuwahlen im November. Wenn auch der Nationalistenführer an die Bevölkerung appelliert, nicht denen zu glauben, die die Europäische Union als ein "Rettungsring" präsentierten: Faktisch hat Baceli einen Wahlkampf pro oder Contra EU-Beitritt eingeläutet.

Genau hier liegt die Chance der türkischen Bevölkerung, zu beweisen, dass die einschlägigen Umfragen wirklich stimmen: Angeblich sind 75 Prozent der türkischen Staatsbürger für die weitere Heranführung ihres Landes an die Werte und Normen Europas. Damit würde zugleich der wichtigste Auftrag des bis heute verehrten Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk erfüllt - nämlich die Türkei auf die Ebene zeitgenössischer Zivilisationen zu heben. Jede Stimme für Parteien, die Demokratie, Menschenrechte, individuelle Freiheiten sowie ein Wirtschaftssystem zum Wohle des Volkes und nicht der Korruption versprechen, ist eine Absage an die unverbesserlichen Nationalisten.

Doch auch die Europäer müssen helfen, der Türkei einen gangbaren Weg nach Europa zu ebnen. Immerhin ist sie das einzige islamische Land in der NATO und seit vier Jahrzehnten mit der EU assoziiert. Dabei muss klar sein: Bis zum Brüsseler Sondergipfel im Oktober und bis zum Kopenhagener EU-Gipfel am 14. Dezember wird die Türkei kaum in der Lage sein, weitere signifikante Fortschritte in Form von Gesetzesänderungen zu machen. Dass EU-Kommissionspräsident Romano Prodi seine geplante Reise in die Türkei angesichts der politischen Situation abgesagt hat, zeigt auch, welche Schwierigkeiten in Brüssel bei der Bewertung der Türkei als Beitrittskandidat herrschen.

Die Türkei kann das Thema EU-Beitritt abhaken und zu den Akten legen, sollten die Nationalisten und andere EU-Gegner die Wahlen gewinnen. Die EU aber darf das Thema Türkei nicht abhaken, bevor das türkische Volk seine Entscheidung für oder gegen Europa getroffen hat.

Deshalb ist in Brüssel besonderes Fingerspitzengefühl gefragt. Jede Entscheidung oder Handlung, die von den Türken als eine Brüskierung oder gar Diskriminierung empfunden wird, würde die EU-Befürworter entmutigen und die Europa-Gegner stärken. Die Türkei mit ihrer Lage an der geographischen Peripherie Europas ist für den Westen von enormer Bedeutung. Zahlreiche akute und potentielle Konfliktherde befinden sich in ihrer Nachbarschaft. Sollte die Türkei sich von Europa abwenden, könnte dies auch die innere Stabilität vieler anderer Staaten in Südosteuropa gefährden.