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Neue Heimat für irakische Flüchtlinge

27. November 2009

Es ist kalt, die Sprache klingt fremd und es gibt viele ungewohnte Regeln: Für die rund 1.800 irakischen Flüchtlinge in Deutschland ist es nicht immer leicht, heimisch zu werden. Aber viele sehen hier ihre Zukunft.

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Irak-Flüchtlinge in einem Übergangswohnheim in München (Foto: AP)
Für viele irakische Kinder ist ein Übergangswohnheim das erste neue Zuhause in DeutschlandBild: AP

Nach der US-Invasion 2003 sind rund zwei Millionen Iraker nach Syrien und Jordanien geflohen. Die EU-Innenminister entschieden im November 2008, bis zu 10.000 besonders schutzbedürftige Flüchtlinge außerhalb des regulären Asylverfahrens aufzunehmen. In diesem Rahmen will Deutschland 2.500 Flüchtlinge ins Land lassen. Von den bisher eingereisten 1.800 Irakern aus Syrien und Jordanien ist ein Drittel jünger als 16 Jahre.

Unterricht als Herausforderung

Der zwölfjährige Ahmed aus Bagdad erscheint immer pünktlich zum Unterricht, weil er seine Deutschkenntnisse schnell ausbauen will. Ahmeds Ziel ist es, das Beste aus seinem neuen Leben zu machen. Dafür strengt er sich an. In einem einfachen kleinen Raum mit Holztischen und Plastikstühlen in blau, gelb und orange findet der Deutschunterricht statt. Neben Ahmed nehmen noch sieben andere Kinder zwischen 10 und 15 Jahren teil. Dreizehn Stunden Extra-Unterricht bekommen sie pro Woche, ansonsten gehen sie normal zur Schule. Viel verstehen sie dort aber bislang noch nicht.

In der heutigen Unterrichtsstunde sollen sie lernen, wie man das Wort "Mama" schreibt. Der Kurs ist nicht nur für die Schüler eine Herausforderung, sondern auch für die Lehrerin. Sie spricht kein Wort Arabisch. Die Kinder seien zwar lernwillig, sagt sie, aber ebenso lebhaft. "Das ist auch verständlich, man weiß nicht, was die Kinder in ihrem Leben bisher mitgemacht haben. Für uns ist das sehr schwierig, wir können das nicht hinterfragen, wir wissen es nicht", erzählt sie aus ihrem Lehralltag.

In Deutschland herrscht Frieden

Die Fluechtlingskinder Dany, Delon und Diamon Waad in einem Übergangswohnheim fuer irakische Flüchtlinge in München (Foto: AP)
Ahmed wünscht sich für alle Kinder im Irak Frieden, so wie in DeutschlandBild: AP

Nach dem Kurs geht Ahmed nach Hause. Mit seiner Mutter und den beiden jüngeren Schwestern wohnt er in einem sogenannten "Übergangswohnheim für Flüchtlinge". Insgesamt vier Familien aus dem Irak leben in dem vierstöckigen Haus. Ahmed läuft durch das schmutzige Treppenhaus in den zweiten Stock, am Appartement 22 klopft er an die Tür. Dahinter jenes Zimmer, das sich seine Familie teilen muss. Auf den beiden Schränke, die die Sicht auf die Betten versperren, liegen noch die Koffer, mit denen die Flüchtlinge vor sechs Wochen hier ankamen. "Im Irak war es sehr schwer. Wir sind nach Deutschland ausgewandert, um eine bessere Zukunft zu haben, ohne Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Im Irak haben wir ständig in Angst und Stress gelebt. Hier in Deutschland herrschen Ordnung und Frieden. Ich wünsche mir für alle Kinder, die noch im Irak leben, den Frieden", sagt Ahmed, und er ist sichtlich froh in Deutschland zu sein.

Erinnerungen an Tod und Gewalt

Auf der Fensterbank stehen Blumen. Ahmeds Mutter hat alles so schön eingerichtet, wie es eben geht. Sie ist Mitte 30 und trägt ein schlichtes Kopftuch. "Alles in Ordnung hier", sagt sie. Früher war gar nichts in Ordnung. Die Erinnerungen an diese Zeit kommen immer wieder hoch: "Sie bedrohten mich und meine Kinder, weil ich für eine amerikanische Firma gearbeitet habe, in der Grünen Zone von Bagdad. Sie stießen meinem Sohn und schlugen ihm zwei Zähne aus". Und sie drohten der Familie mit dem Tod, wenn sie nicht aus dem Irak verschwinde.

Irak Bombenanschlag in Bagdad (Foto: AP)
Bombenanschläge gehören im Irak zum AlltagBild: AP

Ahmeds Mutter zeigt ein Foto: Ein umgestürzter Schreibtischstuhl, ein Loch in der Decke, Schutt. Ein versuchter Bombenanschlag auf das Büro, in dem sie arbeitete. Schiitische Milizen umzingelten die Wohngegend, mit Baseballschlägern droschen sie auf die Leute ein und nahmen 25 Menschen mit. Zwei Onkel von Ahmed wurden erschossen. Auch Ahmed hat schreckliche Erinnerungen an seine Heimat. Man habe auf ihn und andere Leute geschossen, als er Brot kaufen wollte. "Ein Schuss ging ganz knapp an meinem Gesicht vorbei", erzählt der Junge und verstummt dann schnell.

Bei der Flucht blieben Vater und Großeltern zurück

Ahmeds Familie floh 2006 nach Syrien. Dort stellte sie einen Antrag beim UN-Flüchtlingshilfswerk. Nach längerem Warten kam die Anwort: Deutschland nimmt sie auf. Flüchtlinge aus dem Irak bekommen eine dreijährige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Finden sie keine Arbeit, bekommen sie „Hartz IV“. Rund die Hälfte der Flüchtlinge sind Christen. Andere – wie Ahmeds Nachbarn – gehören der religiösen Minderheit der Mandäer an, deren Glaube jüdische, christliche und gnostische Elemente enthält.

Wenn Ahmed sich an den Tag der Ankunft in Deutschland erinnert, fängt er an zu weinen. Er muss an seinen Vater denken und an seine Großeltern, die in Syrien geblieben sind. Aber dann ruft er sich ins Gedächtnis, was ihm an Deutschland gefällt: "In Deutschland sprechen die Lehrer höflich mit den Schülern, sie respektieren sie und geben sich Mühe. Im Irak werden die Kinder geschlagen. Hier ist das anders, hier fühle ich mich wohl."

Ein guter Neuanfang

Flüchtlinge aus dem Irak bei ihrer Ankunft in Hannover (Foto: AP)
Neuanfang in DeutschlandBild: AP

Endlich kann Ahmed wieder Fußball spielen, seine Leidenschaft. Im Fernsehen und im Internet kann er seinen Lieblingsclub beobachten, den FC Barcelona. Über das Internet sprechen Ahmed und seine Schwestern auch fast jeden Tag mit ihrem Vater. Sie erzählen ihm, dass es in Deutschland kalt ist und sie beschreiben, wie schön es ist, Straßenbahn zu fahren. Oder sie berichten vom Besuch im Zoo. Aber immer fragen sie ihn auch: Wann kommst du endlich?

Denn sie wollen ja, dass er dabei ist in ihrem neuen Leben. Wenn Ahmeds Mutter nach ihrem Deutschkurs einen Job sucht. Und wenn Ahmed fleißig lernt, damit er nach seinem Schulabschluss Ingenieur werden kann.

Autor: Sebastian Erb

Redaktion: Patrizia Pullano / Hartmut Lüning