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Deutsche werden härter

Kay-Alexander Scholz20. November 2013

Eine neue Social-Media-Analyse hat ergeben: Die Deutschen setzen zunehmend auf Eigenverantwortung und Pragmatismus. Das gesellschaftliche Klima wird rauer. Das ist auch eine Herausforderung für die Politik.

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Marathonläufer
Fit halten für die LeistungsgesellschaftBild: Fotolia/ruigsantos

Seit rund 20 Jahren gibt es Trendforschung in Deutschland. Dabei werden Veränderungen in der Gesellschaft nicht mittels Fragebögen ermittelt, sondern über Beobachtungen. In der angelsächsischen Welt gibt es Trendforschung schon länger. Peter Wippermann war mit seinem Hamburger Trendbüro einer der Pioniere auf diesem Gebiet in Deutschland. Er wagte sich auch im Jahr 2009 auf Neuland, als er zusammen mit dem Meinungsforschungsinstitut TNS-Infratest untersuchte, welche Werte sich aus User-Postings auf Websites, in Blogs und Foren ableiten lassen. Der neueste daraus erstellte Werte-Index, den beide Institute am Dienstag in Berlin vorstellten, hat es in sich.

Die Zeiten des zweiten deutschen Biedermeiers, also die Installation einer irgendwie heilen Welt, sei eindeutig vorbei, so Wippermann. Das Symbol dafür sei der neubürgerliche Prenzlauer Berg in Berlin gewesen, doch das sei nun "definitiv historisch". "Wir gehen ganz klar in eine Situation der Leistungsorientierung und des Wettbewerbs, wobei die Polarisierung der Gesellschaft ein großes Thema ist", so Wippermann.

Peter Wippermann, ein Pionier der Trendforschung in Deutschland (Foto: dpa)
Peter Wippermann, ein Pionier der Trendforschung in DeutschlandBild: picture-alliance/dpa

Wellness ist out - Optimierung ist in

Deutlich sichtbar wird das am großen Aufsteiger unter den Werten, der Gesundheit. Jeder zweite der untersuchten Netzeinträge befasste sich laut Studie damit. Hierin gehe es jedoch nicht so sehr um Krankheiten, sondern um Fragen, wie man die eigene Gesundheit erhalten und optimieren könne, heißt es. Auch gesunde Ernährung werde wichtiger, so Wippermann. "Sie soll uns nach vorne bringen." Im Vergleich zu den davor liegenden Studien aus den Jahren 2009 und 2012 gebe es auch bei der sportlichen Gesunderhaltung einen neuen Trend: Nicht mehr die Balance zwischen Körper, Seele und Geist, was unter dem Stichwort Wellness zusammengefasst wird, stünde im Vordergrund. Sondern Selbstmotivation und Leistungsbereitschaft sollen optimiert und gesteigert werden.

Die Wirtschaft und deren Marketing-Abteilungen, für die solche Trendanalysen letztlich gemacht werden, hat beim Thema Gesundheit schon neue Märkte entdeckt. Es gibt Fitness-Apps für das Smartphone, die Schlafqualität oder gelaufene Meter messen. Demnächst wird es einen Chip geben, der in die Bindehaut implantiert wird, um die Blutzuckerwerte ständig zu überwachen und weiter zu geben.

Internet ist geeigneter Beobachtungsraum

Daneben spiele "Erfolg" wieder eine große Rolle, sagen die Trendforscher. Dieser werde jedoch nicht mehr vordergründig am Besitz, sondern an der persönlich erzielten Lebensqualität gemessen. Die Zunahme von Car-Sharing-Anbietern sei hierfür ein gutes Beispiel. Dazu komme "Freiheit" im Sinne von Autonomie und Selbstbestimmung, was weiterhin von hoher Wichtigkeit sei.

Untersucht haben das Trendbüro und Infratest insgesamt 150 reichweitenstarke Quellen im Internet. "Wir haben über ein Jahr lang 1,7 Millionen Userbeiträge quantitativ und qualitativ analysiert", erklärte Jens Krüger von TNS-Infratest. Die Inhalte dort wurden nach Themen geclustert und inhaltsanalytisch aufgearbeitet. Das sei aufwändig, aber aussagekräftiger als das alleinige quantitative Erfassen von häufig verwendeten Begriffen, hieß es. Insgesamt zeigten sich die Trendforscher in ihrer ungewöhnlichen Herangehensweise einer Social-Media-Analyse bestätigt. Denn schließlich sei das Internet ein kultureller Raum und könne die dynamischen Veränderungen in der Gesellschaft gut abbilden, so Wippermann. Nischenähnliche Communities seien "Netzwerke von Gleichgesinnten". Im Internet würden nicht "wenige den anderen ihre Werte vorschreiben".

Ein leeres Rednerpult in der Parteizentrale der FDP (Foto: dpa)
Könnte die FDP, die traditionell für Leistungsorientierung steht, durch die neuen Trends ein Revival erleben?Bild: picture alliance/dpa

Muss sich die Politik umstellen?

Welche Auswirkungen ihre Beobachtungen auf die politische Landschaft und speziell das Wählerverhalten haben könnten, darüber wollten die Trendforscher keine konkreten Aussagen machen. Deutlich aber werde: "Selbstkontrolle ersetzt immer häufiger die Systemkontrolle." Und: "Die Eigenverantwortung steigt, die Erwartungen an die Institutionen sinken", so Wippermann.

Ein Blick auf den Wert "Natur", den dritten Aufsteiger im Index, könnte für die Partei der Grünen lohnenswert sein. "Früher wollte man kollektiv die Natur retten", erzählt Wippermann. Nun aber wende sich der Einzelne der Natur zu, weil sie ein "spiritueller Sinngeber" und als ein Ort der Entschleunigung angesehen werde. Natur sei Symbol für das Harmlose, Unschuldige und Gute inmitten der rasanten gesellschaftlichen Umbrüche.

Diese Romantisierung und die große Sehnsucht nach einem naturnahen Alltags zeigten sich bereits auf dem Zeitschriftenmarkt. Die Auflage der Zeitschrift "Landlust" ist höher als die mancher klassischer Nachrichtenmagazine. Klassischer Umwelt- und Klimaschutz als politische Herangehensweise sei im Netz für den Werte-Index kaum mehr messbar gewesen.

Baumallee im Herbst (Foto: Frau Polina veydman)
Die Natur wird wieder romantisiertBild: Tschaikowski-Museum in Klin/Veydman

Ähnlich erfahre der Begriff "Nachhaltigkeit" derzeit eine Neudefinition, so Wippermann. "Es geht nicht mehr um politisch-ideologische Weltenrettung, sondern um Schutz, Erhaltung und zunehmend auch um soziale Aspekte." Daraus abgeleitete politische Forderungen aber werden eher an NGOs als an Parteien delegiert.