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"Nichts sollte mehr an das Dorf erinnern"

10. Juni 2002

- 60. Jahrestag der Tragödie von Lidice

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Prag, 9.6.2002, RADIO PRAG

RADIO PRAG, deutsch, 9.6.2002

Über 2000 Menschen sind am Sonntag (9.6.) in der Gemeinde Lidice bei Kladno zusammengekommen, um der Opfer des vor 60 Jahren von den Nazis verübten Massakers zu gedenken. Am 10. Juni 1942 wurde Lidice von den deutschen Nationalsozialisten dem Boden gleichgemacht. Die Männer wurden erschossen, die Frauen in das KZ Ravensbrück verschleppt und rund 100 Kinder zur Germanisierung deutschen Familien zur Verfügung gestellt. An der Gedenkstunde, veranstaltet von der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens (KSCM), nahm unter anderem auch die PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer teil. Auf einer Pressekonferenz verurteilte sie jegliche Bemühungen um die Eröffnung der Frage der so genannten Benes-Dekrete. (ykk)

RADIO PRAG, deutsch, 8.6.2002, Kathrin Bock

Vor 60 Jahren, am 10. Juni 1942, wurde das kleine böhmische Dorf Lidice als Vergeltungsakt für das erfolgreiche Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich vernichtet. Die Männer des Dorfes wurden erschossen, die Frauen und Kinder in Konzentrationslager verschleppt, die Häuser angezündet und niedergerissen. Nichts sollte mehr an das Dorf Lidice erinnern.

Wie Hunderte andere ehemalige Soldaten der aufgelösten tschechoslowakischen Armee beschlossen im Dezember 1939 auch zwei junge Männer aus einem kleinen böhmischen Dorf namens Lidice, ihre Heimat zu verlassen, um im Ausland gegen die Faschisten zu kämpfen. Josef Horak und Josef Stribrny schlugen sich nach Großbritannien durch, wo sie in der RAF dienten. Unzählige Flugstunden verbrachten sie in ihren Maschinen, um so für die Befreiung ihrer Heimat von den deutschen Besatzern zu kämpfen. Eines Tages hörten sie die schreckliche Nachricht von der Zerstörung ihres Dorfes.

Josef Horak und Josef Stribrny hatten nichts mit dem Attentat auf Heydrich zu tun, doch der Gestapo war zugetragen worden, dass man Horak nach dem Attentat in der Nähe von Lidice gesehen habe. Da das Attentat von in Großbritannien ausgebildeten tschechischen Fallschirmjägern verübt worden war, glaubte man, eine heiße Spur zu verfolgen. Eine Woche nach dem Attentat auf Heydrich fanden in Lidice die ersten Hausdurchsuchungen statt. Die Familienangehörigen von Josef Horak und Josef Stribrny wurden verhaftet. Josefs Schwester Anna war damals 22 Jahre alt, jung verheiratet und erwartete Mitte Juni 1942 ihr erstes Kind. Die Hochschwangere durfte in Lidice bleiben und erlebte dort den 10. Juni 1942. Anna Horakova-Nesporova brachte in einer Gestapo-Klinik in Prag ihr Kind zur Welt.

"Am 19. Juni fingen die Wehen an. Mir wurde bewusst, dass ein SS-Mann als erster mein Kind sehen wird. Da dachte ich an alle meine Lieben, biss die Zähne zusammen und brachte das Kind alleine zur Welt - es war ein Mädchen." Anna Horakova- Nesporava sah das Kind nie wieder. Von den 105 Lidicer Kindern kehrten nur 17 zurück.

Am dritten Jahrestag der Vernichtung, am 10. Juni 1945 fand an der Stelle des ehemaligen Lidices eine Gedenkfeier statt. An dieser nahmen 150.000 Menschen teil, darunter 145 Lidicer Frauen und die einzigen lebenden zwei Männer aus Lidice, Josef Horak und Josef Stribrny. Winn Plocka-Horak, die Witwe von Josef Horak erinnert sich:

"Es war schrecklich nur zwei Männer zwischen all den Frauen zu sehen, die alles verloren hatten, keine Kinder, keine Männer, keine Eltern mehr hatten. Und dazu der Kontrast zu uns: eine glückliche Familie mit zwei kleinen Söhnen - das passte irgendwie nicht zusammen."

Während dieser Trauerfeier wurde feierlich der Wiederaufbau Lidices verkündet. Dazu war eigens eine Gesellschaft zum Wiederaufbau Lidices gegründet worden, deren Mitglied auch Josef Horak war. Doch nicht alle freuten sich über seine Anwesenheit. Einige der Lidicer Frauen machten ihn verantwortlich für das Schicksal ihrer Gemeinde.

Am 5. Jahrestag der Vernichtung wurde der Grundstein für das neue Lidice gelegt. Bis 1959 entstand ein kommunistisches Musterdorf ohne Kirche und ohne Kneipe. Anlässlich der Grundsteinlegung bedankte sich Josef Horak in einer Rundfunkansprache im Namen der Bewohner des alten Lidices für die Hilfe aus den USA und Großbritannien.

"Das neue Lidice soll neben der Stelle, an der das alte Dorf stand, als modernstes Dorf der Welt gebaut werden. Heute hat die Gesellschaft für den Wiederaufbau Lidices begonnen, die vorhandenen Pläne in die Tat umzusetzen. Dabei wird ihr von allen Bewohnern meines Landes geholfen."

Doch Josef Horak und Josef Stribrny sollten kein Haus im neuen Lidice erhalten. Die Gesellschaft für den Wiederaufbau Lidices beschloss, dass nur Lidicer Frauen und Waisen ein Haus erhalten sollen. Offiziell wurde dies mit Geldmangel begründet, der inoffizielle Grund war aber die Tatsache, dass die beiden Männer während des Krieges auf westlicher Seite gekämpft hatten und nun in den Augen der Kommunisten als Verräter galten. Nach der Machtergreifung der Kommunisten wurde die Situation immer unerträglicher, wie sich Winn Plocka-Horak erinnert:

"Eines Tages wachte ich auf und alles war anders. Das war nach den Wahlen 1948. Plötzlich trugen die Leute im Dorf Armbinden, einige sogar Waffen und begannen uns auf der Strasse zu beschimpfen - als Kapitalisten und Verräter. Ich spürte schon vorher, dass wir nicht richtig willkommen waren, dass die meisten uns nicht wollten, aber das Verhalten war ein Schock."

Winn kehrte kurz darauf mit ihren beiden Söhnen nach England zurück. Etwas später folgte auf illegale Weise ihr Mann. Dieser kam bereits im Januar 1949 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Seine Schwester, Anna Horakova-Nesporova, durfte nicht zu seiner Beerdigung. Außerdem wurde ihr der Kontakt zu ihren Verwandten in England verboten - bis 1989. Ihr Neffe Josef Horak jr. fasst das Schicksal seiner Tante kurz und bündig zusammen:

"Während des Kriegs hat Anna dank der Deutschen alles verloren. Das einzige was ihr noch blieb, war ihr Bruder - und den haben ihr die Kommunisten genommen."

Josef Horak jr. ist nach 1948 in England aufgewachsen und spricht kein Tschechisch mehr - und fühlt sich - dank der Kommunisten - um einen Teil seines Lebens und seiner Familie beraubt. (...) Das erste Mal nach über 40 Jahren kehrte er 1992 in das Heimatdorf seines Vaters zurück. Dieses hat inzwischen die beiden überlebenden Männer rehabilitiert. 1992 wurde die Strasse der Roten Armee in Stribrny-Straße umbenannt, die nach dem ersten kommunistischen Innenminister benannte Straße trägt nun den Namen von Josef Horak.

Auch Josef Stribrny hatte kein Glück in seinem Leben. Wie Hunderte andere ehemalige Soldaten, die auf Seiten der West-Alliierten gekämpft hatten, wurde auch er nach der Machtergreifung der Kommunisten 1948 aus seiner Arbeit entlassen, verhaftet und verurteilt. Nach einigen Monaten Gefängnis wurde Stribrny entlassen, arbeitete als Arbeiter in einer Fabrik und starb 1976 vergessen und verlassen.

Lidice selbst wurde zwischen 1947 und 1959 als mustergültiges Dorf wiederaufgebaut. Bald begannen die 1948 an die Macht gekommenen Kommunisten Lidice für ihre Zwecke zu nutzen. Jedes Jahr im Juni fanden hier Massenveranstaltungen statt, bei denen Reden gegen Kapitalisten und Imperialisten geschwungen wurden. Die Lidicer Frauen aber wurden zu kommunistischen Vorzeigefiguren degradiert, die bei keiner staatlichen Feierlichkeit fehlen durften. Lidice selbst verkam zu einem kommunistischen Denkmal. Ein Beigeschmack, der auch 12 Jahre nach der Samtenen Revolution noch an ihm haftet. Nach 1989 wurden die meisten Gelder für die Instandhaltung der Gedenkstätte gestrichen. Diese verfiel langsam, bis die Regierung dieses Jahr endlich aufwachte und sich des vernachlässigten Zustands bewusst wurde. Noch ist Lidice auf der Suche nach einer neuen Identität, doch eigentlich braucht es keine Propaganda. Wer einmal dort war und das leere Tal gesehen hat, in dem einstmals ein Dorf stand, der vergisst dies nie wieder.

Lidice aber erlebte sein zweites Leben als kommunistisches Symbol antifaschistischen Kampfes. Jedes Jahr am 10. Juni wurden hier bei Massenveranstaltungen politische Reden gegen Imperialisten und Kapitalisten geschwungen. Die Lidicer Frauen wurden zu kommunistischen Vorzeigefiguren degradiert, die bei keiner offiziellen Feierlichkeit fehlen durften. Schulklassen und Reisegruppen wurden Busweise nach Lidice gefahren. Mitte der 80er Jahre beschloss die damalige kommunistische Regierung ein größeres Museum zu bauen. Die Vollendung dieses etwas größenwahnsinnigen Planes stoppte 1989 die Samtene Revolution.

Lidice erwachte nach 1989 aus einem bösen Traum, doch die Folgen waren zu spüren: in den Köpfen der meisten Tschechen ist Lidice noch heute ein Symbol des Kommunismus, zu dem man als Schüler verfrachtet wurde, die "Lidicer Frauen" sind ebenfalls in den Köpfen der jüngeren Generationen ein Symbol des Vorzeigekommunismus. Die neue Regierung machte mit all den Vorteilen der Kommunisten erst mal Schluss. Die Gelder für Lidice wurden gestrichen. Das kleine 500-Seelen-Dorf konnte jedoch den Protzbau eines neuen Museums nicht selber finanzieren. Über 10 Jahre lang dominierte eine gigantische Bauruine den Anblick Lidices. Mitte der 90er Jahre wurde der Rosengarten, der in den 50er Jahren angelegt worden war und weltweit zu einem Symbol wurde, eingeebnet, es fehlten die Gelder für seine Instandhaltung. Keiner interessierte sich für Lidice, da es als Symbol der Kommunisten und kommunistischer Wahlfahrten im Hinterkopf der meisten festsaß.

Doch langsam scheint sich Lidice wieder zu besinnen. (...) Die große Bauruine wurde abgerissen, Gelder für ein Wiederanlegen des Rosengartens gefunden, im ehemaligen kommunistischen Kulturhaus soll ein neues Museum entstehen, die der Berliner Galerist Rene Block 1967 einem zukünftigen Museum in Lidice schenkte. Vielleicht hilft für eine neue Beurteilung und Sichtweise auf Lidice auch ein Dokumentarfilm, den das tschechische Fernsehen dieser Tage ausstrahlt. (ykk)