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„Nigeria könnte schlimmer enden als der Irak“

30. Dezember 2011

Dr. Emmanuel Franklyne Ogbunwezeh, International Society for Civil Rights (IGFM), macht die soziokulturelle Spaltung und Armut verantwortlich für die jüngsten terroristischen Attentate in Nigeria.

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Fotograf: Thorsten Holler, Copyright:IGFM
Emmanuel Franklyne Ogbunwehzeh, Internationale Gesellschaft für MenschenrechteBild: IGFM

DW-WORLD.DE: In Bekennervideos beruft sich die Terrororganisation Boko Haram, die für die Bombenattentate auf etliche christliche Kirchen an den Weihnachtstagen verantwortlich zeichnet, auf Al Quaida. Aber geht es hier denn wirklich um einen "Angriff auf den Westen"? In welchen Kontext ordnen Sie die Anschläge ein?

Emmanuel Franklyne Ogbunwezeh: Das Problem ist die soziokulturelle Spaltung, aber auch die große Armut des Landes. Nigeria ist tief geprägt vom Aufeinanderprallen der beiden Religionen Islam und Christentum, der je 45 Prozent der Bevölkerung angehören. Die übrigen zehn Prozent glauben an traditionelle Naturreligionen. Im Norden des Landes leben mehr Moslems, im Süden mehr Christen. Die Eliten, die nur ein Prozent ausmachen, besitzen 80 Prozent des Wohlstandes, und die Armen flüchten in die Religion, die sie nahezu einer Gehirnwäsche unterzieht: Moslems machen Christen für ihre Situation verantwortlich und umgekehrt. In diesem Kontext - Armut, Unzufriedenheit mit der Regierung, Frustration über den eigenen Nachbarn - bilden sich dann immer radikalere, fundamentalistische Organisationen:

Was unterscheidet die Situation von der Christenverfolgung in Ägypten oder im Irak?

In wenigen Jahren wird es keinen Unterschied mehr geben. Nigeria ist derzeit so instabil, dass sich die Situation sogar noch weit schlimmer als im Irak entwickeln könnte. Im Irak prallen Sunniten und Schiiten aufeinander, in Nigeria bekämpfen sich Christen und Moslems.

Muslimische Führer kündigen immer wieder an, dass sie niemals einen Christen als Präsidenten akzeptieren würden - und das haben sie in der Vergangenheit auch nie getan, weder 1999, als General Olusegun Obasanjo gewählt wurde, noch heute unter Goodluck Jonathan (Präsident seit Mai 2010, Anm. d. Red.). Unter der Herrschaft von Alhaji Umaru Yar'Adua gab es weniger Attentate – doch sobald ein Christ Präsident wird, fordern radikale Moslems die Einführung der Schariah, um das Regime zu destabilisieren.

Im Irak bekämpfen sich zwei Sekten, in Nigeria geht es vor allem um Macht, und um die Ölvorkommen.

Sehen Sie eine mögliche Lösung dieser vielschichtigen Konflikte?

Die nigerianische Regierung hat mehrere Millionen Dollar Schmiergeld an die Terroristen des Niger-Deltas überwiesen. Nun wollen die Milizen des Nordens wohl dasselbe, wollen ihren Teil vom nationalen Kuchen einsacken. Alles dreht sich um's Geld, um Armut und um die Errichtung eines moslemischen Kaliphats in ganz Westafrika. Ich bin ziemlich sicher, dass die Terroristen auch Unterstützung aus anderen Ländern bekommen. Irgendwer versucht hier, Nigeria in einen Bürgerkrieg zu steuern, und wenn sich die Situation nicht ändert, ist Nigeria spätestens in zehn Jahren von der Landkarte verschwunden. Die Christen verlieren bereits die Geduld.

Also ist die Situation bereits außer Kontrolle geraten?

Nigeria hat über 350 verschiedene Stämme, über 3000 Sprachen. Unsere offzielle Landessprache ist Englisch, aber 60 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten. Wie sollte ein so komplexes Land für eine solche Situation eine Lösung finden?!

Kann die Regierung den politischen Kollaps Ihrer Ansicht nach noch abwenden?

Zunächst müsste die Regierung einmal zeigen, dass sie willens ist, in dieser Situation Abhilfe zu schaffen. Es darf doch nicht die staatliche Strategie sein, einfach Soldaten reinzuschicken, die die Menschen niederschießen – oder zumindest die, die man für die Rädelsführer hält! Zunächst müssten sich alle an einen Verhandlungstisch setzen, rausfinden, wer die rebellen sind, was sie wollen und welche Lösungen man anbieten kann.

Damit Nigeria diese Krise übersteht, müssen Antworten auf drängende Probleme gefunden werden: Armutsbekämpfung, eine Umverteilung des Reichtums, ein neues Bildungssytem, denn die meisten Milizen sind ohne Schulbildung. Die Situation ist nur auf allen drei Ebenen zu lösen: eine bessere Bildung, die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und Armut und der religiösen Spaltung zwischen Christentum und Islam.

Autorin: Johanna Schmeller
Redaktion: Friedel Taube