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Nigerias neue Angst vor Flüchtlingen

Adrian Kriesch / Jan-Philipp Scholz 21. November 2015

Seit Jahren nehmen die Bürger des nigerianischen Yola Menschen auf, die vor Boko Haram fliehen. Nun wurde die Stadt selbst zum Ziel mehrerer Selbstmordanschläge - und die Stimmung gegenüber Flüchtlingen droht zu kippen.

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Angespannte Sicherheitslage: Ein Polizist sichert den Tatort nach dem Anschlag in Yola (Foto: DW)
Angespannte Sicherheitslage: Ein Polizist sichert den Tatort nach dem Anschlag in YolaBild: DW

Es scheint kaum möglich, dass in dem kleinen Hinterhof noch vor wenigen Monaten mehr als 30 Menschen Platz gefunden haben. Sie alle waren auf der Flucht vor der Terrorgruppe Boko Haram - und sie alle kamen bei Mama G. unter, wie die ältere Hausbesitzerin hier liebevoll genannt wird. Was hätte sie denn sonst tun sollen, fragt Mama G.,"die Unterstützung von der Regierung für die Flüchtlinge reicht ja hinten und vorne nicht".

Neue Welle von Selbstmordanschlägen

Inzwischen sind es weniger als zehn Personen, die noch im Haus von Mama G. in der nordost-nigerianischen Stadt Yola wohnen. In den vergangenen Monaten konnte die nigerianische Regierung viele von den Terroristen besetzte Gebiete zurückerobern und die meisten Flüchtlinge sind in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt. Doch die noch verbliebenen haben ein Problem. Denn seit die Terrorgruppe in ihren ländlichen Hochburgen im Nordosten Nigerias militärisch in Bedrängnis gekommen ist, haben die Selbstmord-Anschläge in den Städten der Region massiv zugenommen. Nicht wenige vermuten, dass sich die Islamisten auch unter Flüchtlingsgruppen mischen.

Der Flüchtling Amos Tagai in Yola, Nigeria (Foto: DW)
Flüchtling Amos Tagai fühlt sich stigmatisiertBild: DW

"Ich merke, wie die Angst hier zunimmt und negativ über uns gesprochen wird", meint Amos Tagai. Der 27-Jährige ist letztes Jahr aus seinem knapp fünf Autostunden entfernten Dorf geflohen und auch bei Mama G. untergekommen. "Die Leute behaupten, wir würden Waffen in die Stadt bringen. Das zu hören, macht mich sehr unglücklich, denn ich bin doch selbst vor dem Terror geflohen!" Er gehe schon lange nicht mehr auf den Markt, sagt der junge Mann. Nicht, weil er Angst vor Anschlägen habe, sondern weil er das Misstrauen der Menschen spüre, wenn plötzlich ein "Fremder" auftauche.

Parallelen zu Paris

Nur wenige Tage nachdem sich am Dienstag zwei Selbstmordattentäter auf einem belebten Markt im Zentrum von Yola in die Luft sprengten und 34 Menschen töteten, ist die Stimmung bei den Einwohnern der Stadt angespannt. "Es ist verrückt", sagt ein Marktverkäufer. "Ich müsste mich eigentlich über jeden Kunden freuen, aber manchmal habe ich nun Angst, wenn unbekannte Menschen an meinen Stand kommen." Der Verkäufer gibt zu, auch er habe bei manchen Flüchtlingen ein ungutes Gefühl. Es könne ja auch sein, dass sie gar keine Anschläge begehen wollten, aber von den Terroristen dazu gezwungen würden. Eine andere Verkäuferin mischt sich ins Gespräch ein. Sie hat deutlich weniger Verständnis. "Alles, was ich zu sagen habe: Sie sollen besser da bleiben, wo sie herkommen!" Sie möge einfach keine unbekannten Gesichter. "Woher soll ich denn wissen, ob es nicht vielleicht Terroristen sind?"

DW-Korrspondenten Jan-Philipp Scholz (Mitte) und Adrian Kriesch (rechts) im Gespräch mit Flüchtlingen (Foto: DW)
DW-Korrespondenten Jan-Philipp Scholz (Mitte) und Adrian Kriesch (rechts) im Gespräch mit FlüchtlingenBild: DW

Joshua Abu ist Politikwissenschaftler und hat viele Jahre an der Fachhochschule von Yola unterrichtet. Er sieht deutliche Parallelen zwischen der Flüchtlingsdebatte in seiner Heimatstadt und der aktuellen Situation in Europa. "Genau das ist doch auch nach den Terroranschlägen in Paris passiert", so der Experte für internationale Politik. Spekulationen darüber, inwieweit Terroristen auch schwer kontrollierbare Flüchtlingsbewegungen aus Terrorhochburgen für ihre Zwecke ausnutzten, seien unvermeidbar. "Wir hören ja erstmal nur ihre Geschichten und können die meisten Informationen nicht verifizieren. Keiner kann sagen, was davon stimmt und was nicht, und welche komplexen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Opfern und Tätern eventuell existieren", so Abu.

"Angst darf uns nicht unsere Verantwortung nehmen"

Das dürfe allerdings nicht dazu führen, dass die Menschen in Yola jeden Flüchtling aus Boko Haram-Gebieten unter Generalverdacht stellen. "Wir dürfen nicht vergessen: Es kann uns allen passieren, dass wir zu Flüchtlingen werden und auf die Hilfsbereitschaft anderer angewiesen sind. Unsere Angst darf uns nicht unser Verantwortungsgefühl nehmen", warnt der Experte. Trotzdem müsse man die Sicherheitschecks bei der Ankunft von Flüchtlingen deutlich verbessern. Das Argument, dass man die Menschen, die selbst zu Opfern geworden sind, damit kriminalisiere, lässt er nicht gelten. "Ich bin heute Morgen zu einem Interview bei einem lokalen Fernsehsender gefahren. Am Eingang wurde mein Auto ganz genau kontrolliert und ich wurde komplett durchsucht", so der Politikwissenschaftler. Jeder werde heutzutage leider erst einmal als potenzielle Gefahr gesehen. Das sei nicht angenehm - aber daran werde man sich in den Zeiten des Terrors wohl gewöhnen müssen.

Politikwissenschaftler Joshua Abu in Yola (Foto: DW)
Gegen Generalverdacht: Politikwissenschaftler AbuBild: DW