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Normalität und Wahnsinn

Gil Yaron29. Dezember 2008

Eine Busfahrt ist eine banale Normalität. Überall. Fast überall. In Israel ist eine Busfahrt auch ein persönlicher kleiner Triumph - ein Sieg über die Angst.

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Dizengoff Center in Tel AvivBild: picture-alliance / maxppp

Als mein Vater mir heute Morgen sagte, dass er in Jerusalem in den Bus steigt, um mich in Tel Aviv zu besuchen, war zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Angst mein erster Instinkt: Bitte nimm dir doch ein Taxi, bat ich ihn. Dabei hatte ich die Meldungen von gestern Abend im Kopf, in denen die Hamas ankündigte, Israel wieder mit Selbstmordattentaten überziehen zu wollen. Fast hatte man nach einem Jahr der Ruhe hier schon vergessen was Terror ist. Jetzt haben viele wieder Sorge davor, dass die Anschläge in die Straßen zurückkehren.

Veränderter Alltag

Am Samstagabend, wenige Stunden nach Beginn des Angriffs in Gaza, ging ich kurz in das Dizengoff Center, ein Einkaufszentrum in der Stadtmitte. Es war wie üblich überfüllt, doch am Eingang wurde ich stutzig. Der bewaffnete Wächter, an öffentlichen Plätzen hier im Land eine alltägliche Erscheinung, hielt mich an und fragte nach meinem Ausweis. "Wie bitte?", dachte ich mir. Normalerweise sind die Wächter alte, gelangweilte Rentner, die einen mit Desinteresse durchwinken. Jetzt wurde ich aber genauestens überprüft, so dass sich hinter mir eine Schlange bildete. Doch nicht nur ich, auch der knapp 70-jährige Mann und seine Gattin mit den Plastiktüten ließen sich geduldig untersuchen, bevor sie ins Einkaufszentrum konnten. Die Hamas braucht noch nicht einmal ein Attentat zu verüben, meinen Alltag hat sie schon verändert.

Im Einkaufszentrum ging ich zum Supermarkt. Ich brauchte dringend noch zwei Liter Milch, Brötchen und Schokolade, denn ich erwartete am Abend ganz besondere Gäste. Zwei Jungens aus Sderot, der Stadt, die seit acht Jahren am schwersten und fast täglich unter dem Raketenbeschuss der Hamas leidet, hatten sich bei mir angemeldet. Das heißt, wie viele andere Israelis hatte ich bei der Stadtverwaltung angerufen und mich bereit erklärt, Bewohner aus dem beschossenen Süden bei mir aufzunehmen, bis das Schlimmste, Gott weiß wann, vorbei ist.

Sehnsucht nach Normalität

Also teilte man mir nach kurzer Zeit den achtjährigen Amit und seinen 23-jährigen Bruder Salli zu. Sie kamen um elf Uhr nachts bei mir an. Sie hatten notdürftig ihre Koffer gepackt. Bis ein Uhr verbrachten wir die Zeit mit Gesellschafts- und Computerspielen, der kleine Amit musste sich erst einmal beruhigen. Die ständigen Einschläge der Raketen hatten ihn sichtlich erregt. Den Tag danach verbrachten die zwei Brüder mit Spaziergängen im friedlichen Tel Aviv, doch immer wieder riefen sie bei den Eltern an um zu fragen, ob es ihnen gut geht. Am Abend fuhren sie, trotz des anhaltenden Beschusses und meiner Bitte, zu bleiben, wieder heim. Keine Rakete ist schrecklich genug, um einen achtjährigen mit Sorgen um seine Eltern auf Dauer von ihnen zu trennen. Außerdem vermisste er seine Spiele.

Und das ist vielleicht das Geheimnis, dass die Israelis und Palästinenser diesen Krieg auf Raten trotz aller Schrecken aushalten lässt. Der Alltag und Bindung an Freunde und Familie sind stärker als Furcht, Hass und Frustration, auch wenn sie im Alltag unterschwellig stets präsent sind. Man lernt, vielleicht nicht nur ungeachtet der Bedrohung, sondern auch wegen ihr, intensiver, bewusster zu leben. Vielleicht kam mein Vater deshalb vorhin mit einem verschmitzten Lächeln durch die Tür. Seine 50-minütige Busfahrt von Jerusalem nach Tel Aviv war sein ganz persönlicher kleiner Sieg, der Triumph des Sehnens nach Normalität über den Wahnsinn des Kriegs.