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Interview

Das Gespräch führte Felix Steiner19. April 2007

Bundestagspräsident Norbert Lammert sprach mit der Deutschen Welle über die Türkei und die Zukunft der EU, aktuelle Fragen einer möglichen Leitkultur und das deutsch-polnische Verhältnis.

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Porträt Bundestagspräsident Norbert Lammert, Quelle: dpa
Bundestagspräsident Norbert Lammert (Archivbild)Bild: picture-alliance/ dpa

Deutsche Welle: Herr Bundestagspräsident, in der Vergangenheit haben Sie sich mehrfach öffentlich gegen einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen. Fühlen Sie sich nun durch den brutalen Mord an drei Mitarbeitern eines christlichen Verlages in der Türkei in dieser Woche in ihrer Ablehnung bestärkt oder bestätigt?

Norbert Lammert: Nein. Ich würde uns auch dringend empfehlen, solche vordergründigen Zusammenhänge nicht herzustellen. Es gibt beachtliche Argumente für, aber - wie ich glaube - auch mindestens ebenso beachtliche Argumente, die gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union sprechen. Und es gehört ja zu den Auffälligkeiten der gegenwärtigen politischen Konstellation in Deutschland, dass in ein- und derselben Regierung Vertreter der beiden großen Parteien sitzen, die in dieser Frage zwei ganz unterschiedliche Grundpositionen vertreten. Und vereinbart haben alle miteinander, dass die Verhandlungen, die mit der Türkei begonnen worden sind, ergebnisoffen geführt werden. Das heißt, alle Beteiligten haben sich darauf verständigt, dass sich diese Frage im Lichte der erreichbaren Verhandlungsergebnisse entscheidet.

Sie haben ja schon in früheren Interviews der Europäischen Union Selbstbeschränkung empfohlen, sowohl bei den Aufgaben, die sie übernehmen will, als auch bei ihrer räumlichen Ausdehnung. Wo sollte die EU Ihrer Meinung nach enden? Welche Länder, neben der Türkei, sollte sie auf keinen Fall aufnehmen, selbst wenn die gesamte innere Reformagenda der Europäischen Union erledigt wäre und die volle Handlungsfähigkeit dieses Staatenbundes gegeben wäre?

Es gibt zwei eher grundsätzliche Aspekte, die zunächst tatsächlich nichts mit dem konkreten Fall Türkei zu tun haben. Der eine grundsätzliche Aspekt ist, dass die Europäische Union in ihrem Entwicklungs- und Wachstumsprozess in den vergangenen fünf Jahrzehnten aus vielerlei Gründen die Frage vermieden, manchmal auch verdrängt hat, ob Europa eigentlich Grenzen hat und wo diese Grenzen verlaufen. Und ich glaube nicht, dass man auch im Jahre 50 plus X dieser Gemeinschaft diese Frage weiter beliebig lange verdängen kann. Zumal jedes weitere Mitgliedsland, um welches auch immer wir jetzt streiten würden, sofort, direkt oder indirekt vergleichbare Nachfolgeanträge nach sich zieht und deswegen, weil die Lebenserfahrung dafür spricht, dass die Konsistenz einer Gemeinschaft nicht mit der Zahl ihrer Mitglieder wächst, ist alleine unter diesem Gesichtspunkt klärungsbedürftig.

Es gibt einen zweiten, ebenso prinzipiellen Aspekt und das ist der gegenwärtige Zustand der Gemeinschaft selbst. Ohne einen Verfassungsvertrag, der die Art des Zusammenwirkens und der Organisation der Entscheidungsprozesse unter den jetzt 27 Mitgliedstaaten neu regelt, ist die Gemeinschaft schlicht nicht erweiterungsfähig, völlig gleichgültig, über welche Länder wir miteinander reden. Das Europäische Parlament, das wie die nationalen Parlamente ja weiteren Beitritten zustimmen muss, hat bereits ausdrücklich erklärt, dass sie ohne einen Verfassungsvertrag keinem weiteren Beitritt zustimmen würde und ich habe keinen Zweifel daran, dass das für den Deutschen Bundestag in ähnlicher Weise der Fall ist.

Aber nocheinmal nachgefragt: Selbst wenn die Reformagenda erledigt wäre, der Verfassungsvertrag mit Erfolg zum Ende gebracht würde, wo müßten Ihrer Meinung nach die Grenzen Europas sein?

Also, ich bin nicht so übermütig zu glauben, dass ich der Einzige bin, der für die Beantwortung dieser Frage eine in sich schlüssige und abschließende Antwort geben könnte. Das Problem besteht ja objektiv darin, dass es keine natürlichen Grenzen Europas gibt, schon gar nicht in den Raum hinein, über den wir jetzt diskutieren, also in den osteuropäischen Bereich jenseits der neuen Mitgliedsstaaten, nicht mehr ganz so neuen Mitgliedsstaaten Polen, Ungarn, Tschechische Republik, schon gar nicht mit Blick auf den Raum, der mit dem Stichwort Türkei beschrieben ist. Und deswegen ist dies eine Frage der politischen Definition, weil wir hier keine, gewissermaßen als offensichtliches Kriterium tauglichen, geographischen Grenzen als Grundlage politischer Entscheidungen bemühen können.

Wenn es keine geographischen Grenzen gibt, wie Sie bemerken - könnte es kulturelle Grenzen geben? Eine EU als ein gemeinsamer Kulturraum?

Das ist in der Tat meine persönliche Präferenz. Wobei ich ausdrücklich einräume, dass es auch starke Argumente für die umgekehrte Überlegung gibt, nämlich die Europäische Gemeinschaft als Brücke in andere Kulturräume zu verstehen. Diese beiden Argumente, die jeweils Beachtung verdienen, müssen weiter sorgfältig abgewogen werden, wobei mein Einwand gegenüber der bisherigen Diskussion darin besteht, dass man sich die Mühe dieser Abwägung bislang weitgehend nicht gemacht hat. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die innere Konsistenz einer Gemeinschaft, und das gilt für Nationalstaaten ganz offenkundig und es gilt für Zusammenschlüsse von Nationalstaaten um so mehr, ganz wesentlich von der kulturellen Identität abhängt, über die eine solche Gemeinschaft verfügt oder nicht. Und deswegen ist meine Befürchtung, dass eine sozusagen gezielte Ausweitung in einen anderen Kulturbereich hinein, erhebliche Folgen für die kulturelle Identität und über diese Folgen erhebliche Konsequenzen auch für die politische Konsistenz dieser Gemeinschaft hätte.

Damit möchte ich einen anderen Begriff aufgreifen, den Sie schon mehrfach öffentlich behandelt haben, nämlich den der Leitkultur. Braucht die Europäische Union eine gemeinsame Leitkultur und wenn ja, was wäre das?

Ganz zweifellos - völlig unabhängig, ob man dafür diesen Begriff verwenden will oder nicht. Für jede Gemeinschaft gilt, dass sie einen Mindestbestand an gemeinsamen Orientierungen und Überzeugungen braucht, wenn sie ihren inneren Zusammenhalt wahren will. Und im übrigen: Die Weltgeschichte bietet eine Fülle von Anschauungen dafür, wie gerade auch mit der Expansion von Staaten und Reichen, diese innere Konsistenz zunehmend verlorengegangen ist, was dann wiederum zu einem Verlust der politischen Handlungsfähigkeit des jeweiligen Systems geführt hat. Mein Eindruck ist im übrigen, dass in den vergangenen Monaten der Konsens in einem beachtlichen Maße gewachsen ist, dass diese Notwendig besteht. Es gibt eigentlich kaum noch jemand, der die Notwendigkeit eines solchen Mindestmaßes an gemeinsamen Orientierungen, Überzeugungen bestreitet.

Von der europäischen Ebene auf die deutsche Ebene gezogen: Was soll oder was könnte, was müßte eine deutsche Leitkultur sein? Was macht diese aus?

Ich vermeide ausdrücklich den Begriff deutsche Leitkultur, weil er neben den Missverständissen, die schon der Begriff Leitkultur mit der Dominanzgebärde, der damit verbunden oder von vielen jedenfalls so empfunden wird, hinaus noch das zusätzliche Missverständnis transportiert, als ginge es hier gewissermassen um spezifisch deutsche, im Unterschied zu nicht-deutschen, Wertvorstellungen oder Orientierungen. Tatsächlich gibt es im Zusammenhang mit der von mir postulierten Notwendigkeit eines Mindestmaßes an Gemeinsamkeiten, auf die keine Gesellschaft verzichten kann, nur einen wichtigen Aspekt, der spezifisch deutsch ist: Das ist die Sprache. Alles andere ist nicht deutsch, sondern europäisch, abendländisch, westlich. Und auch aus dem Grunde würde ich uns empfehlen, auch und gerade mit Blick auf das, was in Deutschland notwendig ist, nicht eine Verengung der Betrachtungsweise durchzuführen - sie würde den Sachverhalten und schon gar den geschichtlichen Entwicklungen nicht gerecht.

Wie könnte oder sollte einer solchen Leitkultur für alle in Deutschland Lebenden praktisch zur Durchsetzung verholfen werden? Denn dekretieren läßt sie sich ja nicht und durch Ausschluss - wie im Beispiel der Verhandlungen, darf dieses oder jenes Land Mitglied der Europäischen Union werden - läßt sich das Problem eventueller Nichtakzeptanz ja ebenfalls nicht lösen, weil die Menschen, die Migranten, sind ja da.

Ja, aber Migration muss ja Integration nicht im Wege stehen. Umgekehrt machen wir seit einer Reihe von Jahren die Erfahrung, dass Migration keineswegs automatisch zu Integration führt. Und damit ist das Problem und die Aufgabenstellung eigentlich auch schon beschrieben: Wer nach Deutschland kommt, zumal mit der Erwartung, hier auf Dauer bleiben zu wollen, muss die in dieser Gesellschaft gültigen, verbindlichen Überzeugungen und Orientierungen auch für sich für zumutbar halten. Wenn er das aus religiösen, kulturellen oder sonstigen Überzeugungen nicht kann oder will, dann wird er nicht ausgerechnet in dieser Gesellschaft eine dauerhafte Bleibe finden können.

Könnte man diesen Gedanken eines gemeinsamen Werteverständnis als Leitkultur auch auf einen gemeinsamen Wertekanon mit Blick auf die deutsche Geschichte übertragen? Beispielsweise also auf die Frage: 'War der 8. Mai 1945 ein Tag der Niederlage oder der Befreiung für Deutschland?' Oder auch auf die Frage: 'Was war Widerstand gegen die Nazidiktatur und welche Personen zählen zu diesem Widerstand?'

Das ist insofern wie ich finde, eine interessante Frage, weil sich an dieser wie an manchen anderen Aspekten zeigen lässt, dass auch ein- und dieselben Gesellschaften im Laufe der Zeit über bestimmte Fragen durchaus zu unterschiedlichen Einschätzungen, Überzeugungen kommen können. Ich habe noch in lebhafter Erinnerung, weil ich damals dem Deutschen Bundestag bereits angehörte, welche Kontroverse die berühmte Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 40 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zu genau dieser Frage ausgelöst hat. Und während nach meiner Erinnerung er damals eher einer Minderheitsmeinung prominenten Ausdruck verlieh, ist das, was damals umstritten war, heute ganz zweifellos, jedenfalls nach meiner Wahrnehmung, die dominierende Auffassung in der deutschen Gesellschaft. Ich will ein anderes mit der Integrationsproblematik von vorhin verbundenes Thema nennen, das eine viel längere Entwicklungsgeschichte hat: die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wir sagen heute, zu den unverzichtbaren gemeinsamen Überzeugungen dieser Gesellschaft gehört, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Jeder Blick in unsere eigene Geschichte führt zu der Erkenntnis, dass das keineswegs immer eine unbestrittene gemeinsame Überzeugung in dieser Gesellschaft war.

Seit dem jüngsten Regierungswechsel dort hat sich das deutsch-polnische Verhältnis durchaus negativ entwickelt, zum Einen mit Blick auf den Dialog zwischen den Regierenden, zum Anderen aber auch mit Blick auf gegenseitige publizistische Angriffe, die in den Medien beider Länder stattfinden. Welche Chancen sehen Sie, der Sie selbst vor acht Wochen in Polen waren, wieder eine entspanntere Atmosphäre zu schaffen?

Ich bin da durchaus zuversichtlich, gerade auch nach einer Serie von Gesprächen, die ja nicht nur bei meinem Besuch in Polen stattgefunden haben, sondern bei dem inzwischen stattgefundenen offiziellen Besuch des Präsidiums des polnischen Seim, also des polnischen Parlamentes in Berlin, den konkreten Vereinbarungen zur Verstärkung der Zusammenarbeit über diesen Zusammenhang getroffen haben und im Übrigen, man könnte mit der gleichen Berechtigung, mit der Sie in Ihrer Frage von einer Verschlechterung der Beziehungen gesprochen haben, genauso darauf hinweisen, dass es seit der damaligen Eintrübung inzwischen eine deutliche Aufhellung der Beziehung gegeben hat. Das wird sowohl in dem Verhältnis der beiden Parlamente und der ja doch beachtlichen Vereinbarung deutlich, die deutsch-polnischen Beziehungen auf parlamentarischer Ebene in einer Weise zu privilegieren, wie wir das bisher nur mit unserem französischen Nachbarn getan haben, als auch in der jüngeren Entwicklung der Kontakte zwischen den beiden Regierungen einschließlich der Gespräche, die die Kanzlerin mit Blick auf die Zukunft der Europäischen Union geführt hat.