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Mutationen durch nukleare Unfälle

Nils Zimmermann26. April 2016

Biologe Timothy Mousseau fand in Tschernobyl und Fukushima mutierte Insekten, Vögel und Mäuse. Im DW-Interview teilt er seine überraschenden Erkenntnisse über die Auswirkungen von Nuklearunfällen auf die Tierwelt.

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Fotografie von mutierten Feuerwanzen (Foto: c) Mousseau & Moller : Chernoby Firebugs)
Bild: Mousseau & Moller: Chernobyl Firebugs

DW: Sie haben diese mutierten Feuerwanzen (im Bild oben) gesammelt. Welche Erkenntnis haben Sie dadurch gewonnen?

Timothy Mousseau: Die Feuerwanzen haben uns die Augen geöffnet. Mein Forschungspartner Anders Moller und ich haben am 26. April 2011 Tschernobyl besucht. Wir sammelten in Pripyat Blumen, um deren Pollen zu untersuchen, als Anders diese kleinen, schwarz-roten Insekten vom Boden hochhob. Er sagte: "Tim, schau her, das ist ein Mutant, dem fehlt ein Augenfleck!"

Ab diesem Moment suchten wir überall nach diese kleinen Wanzen. Wir sammelten sie von den am stärksten verseuchten Teilen bis zu den relativ sauberen Orten. Irgendwann hatten wir mehrere hundert dieser kleinen Viecher zusammen. Es war offensichtlich, dass die deformierten Tiere in Gegenden mit einer höheren Verseuchung viel häufiger waren. Wir fanden buchstäblich unter jedem Stein, den wir umgedrehten, Anzeichen von mutagenen Eigenschaften der Strahlung.

Zwei Kohlmeisen aus Tschernobyl - die rechte hat einen Tumor am Kopf (Foto: Courtesy of T.A. Mousseau)
Zwei Kohlmeisen aus Tschernobyl - die rechte hat einen Tumor am KopfBild: Courtesy of T.A. Mousseau

Gibt es einen Schwellenwert für Strahlung, unter dem es keine Auswirkungen gibt?

Die Auswirkungen von Strahlung auf die Mutations-, Krebs- und Sterblichkeitsraten variieren ziemlich stark von Art zu Art. Aber statistisch gibt es eine einfache Beziehung zur Strahlungsdosis. Kleine Dosis, kleiner Effekt; große Dosis, großer Effekt. Es scheint keinen Schwellenwert zu geben, unter dem es keinen Effekt gibt.

Interessanterweise reagieren Organismen, die in der Natur leben, viel sensibler auf Strahlung als Labortiere. Bei einem Vergleich von Labormäusen mit wilden Mäusen, die der gleichen Menge an Strahlung ausgesetzt sind, fällt auf, dass die Sterblichkeitsrate bei den wilden Tieren acht bis zehn mal höher ist. Das liegt daran, dass Labortiere vor Stressfaktoren wie Kälte oder Hunger geschützt sind.

Sind auch Pflanzen und Bäume betroffen?

Wir haben viele deformierte Pollen gesammelt und sogar mutierte Bäume gesehen. Kiefern weisen oft Wuchanomalien auf - selbst in normalen Gebieten ohne radioaktive Verseuchung. Manchmal liegt es an einem Insektenbefall, manchmal an einem heftigen Frost zur falschen Zeit - man kann solche Anomalien überall finden.

Aber in den verseuchten Gebieten in der Ukraine erkennen wir eine Korrelation zwischen der Häufigkeit der Unregelmäßigkeiten und der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Die Beweise sind ziemlich solide. Es gab kürzlich eine Studie, die ein sehr ähnliches Phänomen in Fukushima zeigt. Die Bäume dort sind sehr jung, aber sie werden wahrscheinlich in 30 Jahren verknorpelt sein!

Mutierte Pinien bei Tschernobyl (Foto: Courtesy of T.A. Mousseau)
In der Umgebung des AKWs fanden die beiden Forscher auch mutierte PinienBild: Courtesy of T.A. Mousseau

Was sind die Langzeitfolgen von Strahlung für Tier- und Pflanzenarten in den verseuchten Gebieten?

Die Sache ist, dass bei jeder Spezies ständig eine gewisse Mutation stattfindet. Das gilt auch in sauberen Gebieten, wenn auch in einem viel geringeren Maß als in atomar verseuchten Gegenden.

Dann ist der langfristige Effekt von Atomunfällen auf die Artenvielfalt also gar keiner?

So ist es. Über evolutionäre Zeiträume erwarten wir, dass sich Populationen wieder normalisieren, nachdem das Mutagen verschwunden ist. Radioaktivität zerfällt, Hot Sites kühlen sich irgendwann ab, Mutationen werden wieder seltener und gesunde Tier- und Pflanzenpopulationen rekolonisieren den Ort. Der genetische Vorstatus stellt sich also wieder ein - es sei denn, es ist zu Mutationen gekommen, die die Arten dauerhaft leistungsfähiger machen, aber das ist sehr selten.

Anders Moller und Timothy Mousseau (Foto: Courtesy of T.A. Mousseau)
Timothy Mousseau (l.)und Anders Moller bei der Arbeit vor OrtBild: Courtesy of T.A. Mousseau

Wie können Radioaktivität und andere Probleme eines Ökosystem - beispielsweise der Klimawandel - sich gegenseitig beeinflussen?

Wir haben gezeigt, dass Schwalben an den meisten Orten ihren Brutzeitpunkt in Folge der Erwärmung vorverlegt haben. In der Tschernobyl-Region sind sie hingegen später dran. Wir vermuten, dass das an dem Stress durch die radioaktive Verseuchung liegt.

Die größten Sorgen bereiten momentan die heißeren und trockeneren Sommer in der Ukraine und die daraus resultierende zunehmende Zahl und Größe von Waldbränden. Vergangenen Sommer gab es drei große Brände und einer davon brannte auch in einigen sehr stark verseuchten Gebieten.

Wir haben vorhergesagt, dass solche Ereignisse die Radionuklide im Laub und in der pflanzlichen Biomasse aufwirbeln und neu verteilen und dadurch eine ernsthafte Bedrohung sowohl für die menschliche Bevölkerung als auch die Umwelt darstellen können.

Ukraine Roter Wald Copyright: T.A. Mousseau and A.P. Møller
Der "Rote Wald" in der Ukraine gilt als stark nuklear verseuchtBild: T.A. Mousseau and A.P. Møller

Vögel und Säugetiere wandern häufig. Nehmen sie die radioaktiven Elemente über das Essen auf, können sie das Gift auch an andere Orte weiterverteilen?

Ja! Ich habe vor Jahren eine Studie durchgeführt, die gezeigt hat, dass jedes Jahr große Mengen von Radionukliden durch Vögel exportiert werden. Aber es scheint unwahrscheinlich, dass die Mengen ausreichen, um messbare gesundheitliche Folgen zu haben - es sei denn, die Vögel werden gegessen.

Es ist bekannt, dass manche Menschen, die außerhalb der Sperrzone von Tschernobyl leben, sehr hohe Strahlungsdosen aufweisen, weil sie die Wildschweine jagen, die aus der Zone kommen.

Maus mit Katarakt (Foto: Courtesy of T.A. Mousseau)
Eine Maus mit grauem StarBild: Courtesy of T.A. Mousseau

Wie lange wird die verseuchte Zone um Tschernobyl und Fukushima gefährlich bleiben?

Tschernobyl war ein atomares Feuer und ein andauerndes Kernfusionsereignis, das sich über 10 Tage hinzog. Dabei wurden Strontium-, Uran- und Plutonium-Isotope in der Landschaft verstreut. Sie haben lange Halbwertszeiten, daher werden viele Gebiete über Jahrhunderte vielleicht sogar Jahrtausende gefährlich bleiben.

Fukushima war größtenteils ein Cäsium-Ereignis und Cäsium Radionuklide haben eine relativ kurze Halbwertszeit. Die Gegend wird sich größtenteils auf natürliche Weise in einigen Jahrzehnten dekontaminieren, maximal innerhalb einiger hundert Jahre.

Timothy Mousseau ist Biologieprofessor an University of South Carolina in den USA. Er ist einer der weltweit führenden Experten für die Auswirkungen von radioaktiver Verseuchung durch Atomunfälle auf wilde Vögel, Insekten, Nagetiere und Pflanzen.

Das Interview führte Nils Zimmermann.