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Offene Märkte machen China nicht glücklich

Eva Corell21. Dezember 2001

Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation öffnet die Märkte im Reich der Mitte. Doch bleiben für Banken, Industrie und vor allem die Bauern derzeit mehr Fragen als Antworten auf die Zukunft. Ein Stimmungsbericht.

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Mit einem Federstrich fangen für China viele Probleme erst anBild: AP

Bücher über die WTO gibt es in Peking mittlerweile zu Hunderten. Allerdings fehlt noch das eine, das wichtigste: Das Buch mit den genauen Bedingungen, zu denen sich das Neumitglied China verpflichtet hat. So hat kaum jemand eine Ahnung, was der neue Welthandel bringen könnte. Fast die Hälfte aller Chinesen weiß laut Meinungsumfragen nicht, ob es sich nun gut oder schlecht für sie auswirken wird. Neue Chancen und neue Herausforderungen, so hämmert die kommunistische Propaganda ihnen ein: Subventionen, Zollschranken, Liberalisierung. Mit diesen Schlagworten kann Bauer Liu Wufang nur wenig anfangen: "WTO, ja das weiß ich aus dem Fernsehen. Das wird China reicher machen, weil sie viele Zölle abschaffen. Dann kostet so ein Farbfernseher wie meiner, nur noch halb so viel", ist sich Liu sicher.

Zu wenig zum Geldverdienen

56 Jahre alt ist er, doch das entbehrungsreiche Leben hat Furchen in sein Gesicht gegraben, die ihn viel älter wirken lassen. Seit er denken kann, baut er mit seiner Familie in einem kleinen Dorf in der Nähe von Peking Weizen und Mais an. Er hat schon viele Katastrophen erlebt. Die große Hungersnot, die proletarische Kulturrevolution in den 60er Jahre und zuletzt eine anhaltende Dürre. Seine Weizenfelder tragen gerade noch genug für den Eigenbedarf: "14 Pfennig zahlen die staatlichen Aufkäufer für ein Pfund Weizen", berichtet er.
Ein halbes Mu Ackerfläche, das entspricht ein und drei Sechstel Hektar. Diese Fläche stand jedem Familienmitglied zu, als China Ende der 70er Jahre das Erbpachtsystem für die Bauern einführte. Lauter winzige Parzellen, die ohne Maschinen nicht gewinnbringend bearbeitet werden können. Dafür fehlt den meisten Bauern ebenso das Geld wie für besseres Saatgut. "Wie viel trägt schon ein halbes Mu?" fragt Liu resigniert, "vielleicht 500 Pfund Weizen. Wenn es gute Äcker sind, bis zu 1.000 Pfund. Das reicht gerade zum Leben, Geld kann man damit nicht verdienen." Auch Liu Wufang bearbeitet seine Äcker bis heute mit einem Esel und einem Pflug.

Der offizielle Durchschnittslohn eines chinesischen Bauern liegt unter 500 Mark im Jahr. Viele von Lius Nachbarn haben den Weizenanbau schon längst aufgegeben, und ihre Felder verpachtet. "Nach dem WTO-Beitritt werden noch viel mehr Bauern ihre Felder aufgeben" fürchtet Liu. "Ich habe im Fernsehen gesehen, dass ein amerikanischer Bauer viele Hektar ganz allein bearbeitet, mit Computern und Maschinen." Bauer Liu lebt von dem Geld, das seine beiden Kinder verdienen. Den Farbfernseher hat ihm seine Tochter geschenkt. Der Sohn ist Busfahrer in der Kreisstadt. Er bezahlt die Krankenhaus-Rechnungen und die Dachreparaturen am Haus.

Aus Bauern wurden Wanderarbeiter

Zwischen 100 und 200 Millionen chinesische Bauern ziehen als Wanderarbeiter durchs Land. Diese Zahl könnte sich durch den WTO-Beitritt noch erhöhen. Die Regierung in Peking hat seit 15 Jahren nichts in die Landwirtschaft investiert. So ist die Einkommenskluft zwischen Städten und Hinterland größer geworden ist als jemals zuvor in den 50 Jahren seit der kommunistischen Revolution. Chinas Bauern sind es gewohnt, "Bitterkeit" zu essen. Doch auch ihre Geduld hat Grenzen, sagt Liu: "Solange wir einfachen Leute genug zu essen haben, murren wir nicht. Geld ist nicht so wichtig. Aber wenn wir Hunger leiden, werden wir wütend." 100.000 Proteste von chinesischen Arbeitern und Bauern zählte eine Hongkonger Menschenrechtsgruppe im vergangenen Jahr. In vielen Fällen konnte nur noch die Armee für Ordnung sorgen.