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Unbegleitete Flüchtlingskinder

28. Juli 2011

In Deutschland reisen immer mehr unbegleitete Kinder aus Krisenregionen ein. Die zuständigen Behörden sind damit vielfach überfordert – und NGOs kritisieren den Umgang mit den jungen Flüchtlingen.

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Passkontrolle am Frankfurter Flughafen (Foto: dpa)
Passkontrolle am Frankfurter FlughafenBild: picture alliance/dpa

Dass er Monate brauchen würde, um Deutschland zu erreichen, konnte der 13-jährige Samir (Name geändert) nicht wissen, als er sich auf den Weg machte. Eine Wahl habe er ohnehin nicht gehabt, sagt er, denn in seinem Heimatland Iran habe ihm Gefahr gedroht; welche, möchte er nicht sagen. Jedenfalls bezahlte sein Vater einen Schlepper und zunächst lief auch alles nach Plan: In der Türkei bestieg er den Laderaum eines Lastwagens, der ihn nach Paris brachte. Dort schlief er auf der Straße, sein Schleuser zeigte ihm kirchliche Suppenküchen und schließlich einen Reisebus nach Deutschland. Wenige Stunden später nahmen ihn niederländische Grenzbeamte fest, weil er keinen Pass vorweisen konnte. Er kam für mehrere Monate in Abschiebehaft, dann in ein Flüchtlingslager. Von dort floh er bei der ersten Gelegenheit und nahm einen Zug ins ersehnte Deutschland.

Regionale Unterschiede

Vor allem aus Konfliktgebieten wie Afghanistan, dem Irak und verschiedenen afrikanischen Staaten reisen immer mehr unbegleitete Kinder in die Bundesrepublik ein. Nach Angaben des Innenministeriums ist ihre Zahl von 763 im Jahr 2008 auf 1948 im vergangenen Jahr angestiegen. Viele Städte und Gemeinden sind mit den Neuankömmlingen überfordert. "Ob die Kinder vernünftig betreut werden, ob sie ihre Schulkarriere fortsetzen können, wie ihre Situation ist, hängt sehr stark davon ab, wo in Deutschland sie landen", sagt Sebastian Sedlmayr vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF).

Minderjährige Flüchtlinge in einem Münchner Asylbewerberheim (Foto: dpa)
Minderjährige Flüchtlinge in einem Münchner AsylbewerberheimBild: picture alliance/dpa

Vergleichsweise gut ist die Situation in Bonn. Hier arbeiten die zuständigen Behörden eng zusammen; im Jugendamt kümmert sich ein spezieller Fachdienst darum, dass unbegleitete Minderjährige nach ihrer Ankunft betreut und in Jugendeinrichtungen untergebracht werden. Seit zehn Jahren unterstützt hier zudem der Verein "Ausbildung statt Abschiebung e.V." (AsA) die Jugendlichen mit Weiterbildungsangeboten, die von Mathematik-Klassen bis zu Video-Workshops reichen. In den Räumen des Vereins, einem kleinen Ladenlokal, herrscht ein reges Treiben. Vorne im ehemaligen Verkaufsraum sitzen an Tischen verteilt ehrenamtliche Mitarbeiter und helfen Teenagern bei den Hausaufgaben und dem Erstellen von Bewerbungsmappen, weiter hinten sind mehrere Jugendliche an Computern versammelt, um zu arbeiten, zu surfen und zu plaudern; im Raum daneben erläutert eine Expertin Ratsuchenden das Aufenthalts- und Asylrecht.

Düstere Zukunftsaussichten

"Wir verstehen uns hier in erster Linie als Anlaufstelle für die Jugendlichen", sagt die Geschäftsstellenleiterin Carmen Martinez. "Die Jugendlichen sollen sich akzeptiert fühlen und - unabhängig von Familie, Betreuern, Behörden - frei reden können, ohne Angst vor Konsequenzen zu haben." Gleichwohl arbeitet der AsA e.V. eng mit den Behörden zusammen. Zu seinen Geldgebern gehört neben verschiedenen Stiftungen und Organisationen auch die Stadt Bonn.

Carmen Martinez, Geschäftsstellenleiterin von 'Ausbildung statt Abschiebung' (Foto: DW)
Carmen Martinez, Geschäftsstellenleiterin von "Ausbildung statt Abschiebung"Bild: DW

Die Zukunftsaussichten der minderjährigen Flüchtlinge sind auch bei guter Betreuung häufig düster. Ein guter Schulabschluss gelingt wegen der Sprachbarrieren nur wenigen. Viele verfügen zudem jahrelang über keinen gesicherten Aufenthaltsstatus, was die Jobsuche weiter erschwert - denn die meisten Arbeitgeber schreckt der enorme Papierkrieg ab, der mit einer Einstellung verbunden wäre. Weil man für Praktika keine Arbeitserlaubnis braucht, versucht der AsA e.V., die Jugendlichen auf diesem Weg in Lohn und Brot zu bringen. "Wenn die Arbeitgeber die Jugendlichen schon kennengelernt haben, ist eher die Bereitschaft da, sich auf den Antragsprozess einzulassen", sagt Carmen Martinez.

Kritik von Nichtregierungsorganisationen (NGOs)

Dass sich die zuständigen Ämter aktiv um das Wohlergehen junger Flüchtlinge kümmern, ist keineswegs die Regel. "Wir haben es teilweise immer noch mit einem Abwehrreflex zu tun", sagt Niels Espenhorst vom "Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge". "In einigen Bundesländern kommen sie nicht in spezielle Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, sondern müssen in Flüchtlingsunterkünften bleiben." In diesen Lagern fehle es an einer adäquaten Betreuung für die oft stark verunsicherten und traumatisierten Jugendlichen, sagt Espenhorst. "Die bekommen dort keine Beschulung, keine adäquate Ernährung, keine richtige Bekleidung."

Organisationen wie Amnesty International, Pro Asyl und das Deutsche Rote Kreuz fordern von der Bundesregierung daher eine deutlich bessere Behandlung von Flüchtlingskindern. Die massiven Unterschiede in den Städten und Gemeinden seien nicht akzeptabel, sagt etwa Sebastian Sedlmayr von UNICEF Deutschland. "Von der Bundesregierung kann man eine Rahmengesetzgebung und Signale an die Bundesländer und Kommunen erwarten." Seine Organisation fordert unter anderem, dass spezielle Betreuungsstellen eingerichtet werden und die Unterbringung in Flüchtlingslagern verboten wird. Zudem sei nicht hinnehmbar, dass man im Asyl- und Aufenthaltsrecht schon mit 16 Jahren als mündig gelte.

Sehnsucht nach der Heimat

Im Innenministerium weist man dies zurück. "Aus Sicht der Bundesregierung bedarf es solcher Maßnahmen nicht", so Philipp Spauschus, Sprecher des Ministeriums. Die geltenden Bestimmungen seien im Einklang mit europäischem Recht und eine spezielle Betreuung minderjähriger Flüchtlinge sei schon jetzt bundesweit vorgeschrieben.

Der heute 15-jährige Samir hat es vergleichsweise gut getroffen. Zwar hat er keinen gesicherten Aufenthaltsstatus und wird wohl auf Jahre mit den Einschränkungen der sogenannten Duldung leben müssen. Doch nach seiner Flucht aus dem niederländischen Flüchtlingsheim kam er bei seinem Onkel in Bonn unter. In einer internationalen Förderklasse wird er derzeit auf den Schulbesuch vorbereitet und im AsA e.V. bekommt er Nachhilfe von einer ehrenamtlichen Lehrerin. Sein Deutsch reicht schon für komplexe Unterhaltungen. "Ich will auf jeden Fall meinen Schulabschluss machen", sagt er. "Ich will Mechaniker werden." Deutschland biete viel mehr Möglichkeiten als der Iran, es gefalle ihm gut hier. Doch wenn er könnte, würde er zurück in die Heimat gehen, sagt er. "Ich fühle mich hier alleine."

Autor: Dennis Stute

Redaktion: Susanne Eickenfonder