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Opferschutz und Wahrheitsfindung

Marcel Fürstenau/jf28. April 2002

Der Innenausschuss des Bundestages befasste sich mit der angestrebten Novellierung des Stasi-Unterlagengesetzes – eine Folge des Urteils über die Akte von Helmut Kohl.

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Aktenberge im ehemaligen Stasi-ArchivBild: AP

Seit dem viel beachteten Gerichtsurteil über die Akten, die die Staatssicherheit der untergegangenen DDR über Ex-Bundeskanzler Kohl angelegt hat, denkt man in Berlin über ein neues Gesetz zur Regelung des Umgangs mit den Stasi-Akten nach. In dem Gerichtsurteil wurde dem Schutz der Opfer von Stasi-Aktivitäten höchster Vorrang eingeräumt.

Am 25.4.2002 fand im Deutschen Bundestag eine Anhörung des Innenausschusses über das 1991 verabschiedete so genannte "Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik" statt. Auf der Basis dieses kurz "Stasi-Unterlagen-Gesetz" genannten Gesetzes wurde in den zurückliegenden zehn Jahren Einblick in die Hinterlassenschaft des DDR-Geheimdienstes gewährt. Insbesondere Wissenschaftler und Journalisten konnten so die Wirkungsweise des Spitzelapparates und die Verstrickungen vieler Menschen aus Ost und West recherchieren und öffentlich machen.

Ende mancher Politikerlaufbahn

Auf diese Weise endete manche Politikerkarriere. Beispielsweise die des ersten und gleichzeitig letzten frei gewählten DDR-Ministerpräsidenten, Lothar de Maizière. Der Christdemokrat war unter dem Decknamen 'Cerny' als Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit geführt worden. Welche Qualität de Mazières Stasi-Tätigkeit hatte, konnte nie ganz geklärt werden. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe aber waren ausreichend, um seine politische Laufbahn zu beenden.

Der Fall de Mazières belegt geradezu exemplarisch, wie fragwürdig die Stasi-Quellen sind. Was in den folgenden Jahren nichts daran änderte, dass die Akten intensiv erforscht, ausgewertet und eben auch publiziert wurden. Im Osten Deutschlands werden Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes auf eine mögliche Stasi-Tätigkeit überprüft.

PDS profitiert von Kohls Klage

Über den Umgang mit den Stasi-Akten wurde von Beginn an immer wieder leidenschaftlich gestritten. Vor allem die PDS, Nachfolgerin der DDR-Staatspartei SED, war prinzipiell gegen die Öffnung der Archive. Kein Wunder, denn in ihren Reihen dürfte die Zahl derjenigen am höchsten sein, die Angst vor unangenehmen Wahrheiten oder auch Mutmaßungen haben müssen.

Doch - Ironie des Schicksals - es war der sogenannte 'Kanzler der Einheit', Helmut Kohl, dessen Fall die Debatte über eine Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ausgelöst hatte. Der Christdemokrat, der das Gesetz als Kanzler unterschrieben hatte, klagte gegen die Herausgabe seiner Akten. Anfang März dieses Jahres gab ihm das Bundesverwaltungsgericht in Berlin letztinstanzlich recht.

Opferschutz geht vor

Das Bundesverwaltungsgericht urteilte, der Opferschutz sei der "unmissverständlich zum Ausdruck gekommene Wille des Gesetzgebers". Durch das Urteil sei nicht zu befürchten, dass nun die Aufklärung der Stasi-Vergangenheit ernsthaft gefährdet sei. Dafür stünden noch genügend Akten zur Verfügung.

Das bezweifelt die Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde, Marianne Birthler. Die frühere DDR-Bürgerrechtlerin befürchtet, daß sich jetzt auch ehemalige Politiker, Amtsträger und Funktionäre des DDR-Regimes auf das Kohl-Urteil berufen werden. Wenn diese Personen nicht in die Veröffentlichung ihrer Akten einwilligen - womit niemand rechnet, dann "müssen Namen und alle Informationen, die Rückschlüsse auf die Personen erlauben, von uns anonymisiert bzw. geschwärzt werden", sagt Birthler. "Die Folge davon ist, dass sehr viele Unterlagen, die für die Aufarbeitung wichtig sind, wertlos werden. Damit werden auch solche Personen von dem Urteil profitieren, die als Stützen der SED-Diktatur fungierten."

Nach Angaben Marianne Birthlers liegen der Stasi-Unterlagen-Behörde mehr als 2000 Anträge von Wissenschaftlern und Journalisten auf Einblick in Akten von Personen der Zeitgeschichte vor. Ohne Einverständnis der Betroffenen werden diese Unterlagen größtenteils unter Verschluß bleiben. Besonders ärgerlich findet sie, dass auch mutmaßliche NS-Verbrecher unbehelligt bleiben könnten. In den Stasi-Akten finden sich nämlich zahlreiche Hinweise auf Gräueltaten, die der westdeutschen Justiz bisher verborgen geblieben sind. Die brisanten Dokumente könnten nach dem Kohl-Urteil für immer dem Zugriff der Richter und Historiker entzogen sein.