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Oradour-Massaker: Erste Anklage gegen möglichen NS-Verbrecher

Christian Ignatzi10. Juni 2014

Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen einen 89-jährigen Kölner, der vor 70 Jahren am NS-Massaker von Oradour beteiligt gewesen sein soll. Ob es zum Prozess kommt, ist unklar - denn es gilt das Jugendstrafrecht.

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Ruinen von Oradour-sur-Glane
Bild: Jean-Pierre Muller/AFP/Getty Images

10. Juni 1944 im nationalsozialistisch besetzten Frankreich. Vier Tage zuvor sind die Alliierten in der Normandie gelandet. Von Südwesten marschiert ihnen das SS-Regiment "Der Führer" entgegen. An diesem Frühlingssamstag erreichen die Deutschen das Dörfchen Oradour-sur-Glane in der Nähe von Limoges. Dort begehen sie ein Verbrechen, das als das größte Massaker Westeuropas in die Geschichte eingehen wird.

Gegen 14 Uhr erscheinen die 120 Soldaten im Dorf und treiben die Bewohner unter dem Vorwand, Waffen zu suchen, auf dem Marktplatz zusammen. Nachdem sie Frauen und Kinder in die Kirche geschickt haben, treiben sie die Männer in Scheunen und erschießen sie. Danach zünden sie die Kirche an und beschießen sie mit Gewehren und Granaten. Warum, ist bis heute ungeklärt. Sie ermorden 642 Menschen. Nur wenige überleben.

Staatsanwaltschaft: Schuldig des Mordes in 25 Fällen

Am Dienstag (10.06.2014) jährt sich das Massaker zum 70. Mal. Nun steht ein Verfahren gegen ein ehemaliges Mitglied des SS-Regiments vor der Eröffnung. "Wir haben Anklage erhoben, weil wir Zeugenaussagen und Archivmaterial ausgewertet haben", so Oberstaatsanwalt Andreas Brendel der DW. Er leitet die Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen. Der Angeklagte Werner C., mittlerweile 89 Jahre alt, soll in Oradour als 19-jähriger SS-Mann 25 Menschen ermordet und in weiteren 617 Fällen Beihilfe zum Mord geleistet haben.

Gauck und Hollande in Oradour-sur-Glane 04.09.2013
Bundespräsident Gauck (rechts) und Frankreichs Präsident Hollande (links) mit dem Überlebenden Robert Hébras in OradourBild: REUTERS

In einer Mitteilung des Landgerichts Köln heißt es, der Angeklagte habe gemeinsam mit einem weiteren Maschinengewehrschützen die Männer in einem Weinlager niedergeschossen. Danach habe er bei der Ermordung der Frauen und Kinder geholfen, indem er in Sichtweite der Kirche Absperr- und Bewachungsaufgaben übernahm oder Brennmaterial in die Kirche trug. Sein Anwalt Rainer Pohlen glaubt einer anderen Version. Sein Mandat sei zu Überwachungen eingeteilt gewesen, habe aber nicht geschossen: "Die Beweiswürdigung ist nur 49 Zeilen lang, was bei mehr als 40.000 Seiten Akten nicht viel ist", betont er. "In den Aufzeichnungen kommt der Name meines Mandanten aber nur einmal vor."

Verteidigung: Werner C. war kein Schütze

Zudem habe ein Augenzeuge, der elsässische SS-Mann August Lohner, schon bei einem Tribunal in Bordeaux 1953 sehr präzise Angaben über die Todesschützen gemacht. Der Tatverdächtige sei nicht dabei gewesen. "Tatsächlich wurde er von keinem Augenzeugen erwähnt", sagt Staatsanwalt Brendel. "Aber wir haben Listen ausgewertet und Schlussfolgerungen daraus gezogen." Die Staatsanwaltschaft gehe davon aus, dass sich keiner der SS-Leute den Befehlen entziehen konnte. Die Gruppe, der Werner C. angehörte, hatte den Auftrag, zu schießen und Feuer zu legen. Anklage und Verteidigung warten nun auf eine Entscheidung des Landgerichts Köln, ob das Verfahren eröffnet wird oder nicht.

Ruinen von Oradour-sur-Glane
Heute ein Geisterdorf: Oradour-sur-Glane dient als MahnmalBild: picture-alliance/dpa

Anwalt Pohlen, der Ende März dem Gericht Argumente gegen eine Verurteilung vorgelegt hat, ist ohnehin der Meinung, dass ein Verfahren 70 Jahre nach den Tatvorwürfen nicht zwingend erforderlich ist: "Ich halte es für historisch nicht geboten, dass man so viele Jahre danach noch tätig wird." Staatsanwalt Brendel widerspricht: "Mord verjährt nicht. Das Strafgesetzbuch sieht keine Altersgrenze für Straftäter vor." Zudem sei es aus moralischen Gründen selbstverständlich, Verfahren gegen mögliche Beteiligte an Kriegsverbrechen einzuleiten.

Jede Verurteilung kann Wogen glätten

Daran hat es lange gehapert. Die Bundesrepublik Deutschland hat bisher niemanden wegen des Massakers zur Verantwortung gezogen. Ein Täter wurde 1983 in der DDR zu lebenslanger Haft verurteilt und 1997 im wiedervereinigten Deutschland aus der Haft entlassen. Um so bedeutender ist die Anklage gegen Werner C.

Kein Wunder, dass die Angehörigen der Opfer von Oradour Deutschen lange Zeit verboten haben, ihr zerstörtes Dorf zu betreten. Mittlerweile bietet ein Überlebender Führungen durch die Ruinen an. Im vergangenen Jahr besuchte Bundespräsident Joachim Gauck Oradour gemeinsam mit seinem französischen Kollegen François Hollande. Der sichtlich bewegte Gauck bat, Hand in Hand mit Hollande, die Angehörigen um Verzeihung.

SS-Untersturmführer Heinz Barth
In der DDR 1983 zu lebenslanger Haft verurteilt, 1997 entlassen: SS-Mann Heinz Barth (links)Bild: picture alliance/ADN Zentralbild

Jede Verurteilung eines NS-Kriegsverbrechers sorgt dafür, die Wogen ein wenig zu glätten, glaubt Staatsanwalt Brendel: "Es kommt eben nicht nur darauf an, Täter zu bestrafen, sondern auch, dass durch uns verschuldete Leid ins Bewusstsein zu rücken." Acht mutmaßliche Täter des Massakers von Oradour stünden derzeit noch auf der Liste, sagt Brendel. "Aktuell laufen außerdem zehn oder elf weitere Verfahren gegen NS-Kriegsverbrecher in Deutschland."

Entscheidung im Sommer erwartet

Dass es noch heute Prozesse gibt, hat mehrere Gründe. Viele Akten sind erst spät freigegeben worden und nach dem Fall der Mauer brachten Stasi-Akten neue Erkenntnisse. Das Schengen-Abkommen erleichtert die grenzübergreifende Arbeit mit Frankreich. In den späten 1970er Jahren gab es schon einmal Ermittlungen gegen Werner C., die mangels Beweisen fallengelassen wurden. "Außerdem", sagt Rechtsanwalt Pohlen, "ist es eine Tatsache, dass die deutsche Justiz viele Jahrzehnte nichts von Oradour wissen wollte. Ich habe den Eindruck, man versucht jetzt, ins Verfahren zu bekommen, was noch geht."

Ob das Hauptverfahren gegen Werner C. eröffnet wird, entscheidet die Jugendkammer am Kölner Landgericht - da der Angeklagte 1944 erst 19 Jahre alt war, gilt das Jugendstrafrecht. "Mit solch einem Fall hat dort noch niemand zu tun gehabt", sagt Rechtsanwalt Pohlen. "Da musste man sich erst einmal einlesen." Pohlen geht davon aus, dass bis Juli oder August Klarheit herrschen wird. "Für meinen Mandanten bedeutet diese Wartezeit natürlich Stress." Sollte das Gericht ihn dann für unschuldig erklären, hätte die Staatsanwaltschaft dennoch etwas erreicht, ist sich Andreas Brendel sicher: "Für die heutige Jugend ist so etwas immer auch ein mahnendes Beispiel im Kampf gegen Neonazis."