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Pakistan und Bangladesch bleiben Sorgenkinder

8. September 2010

760 Millionen erwachsene Menschen weltweit können weder lesen noch schreiben. Besonders dramatisch ist die Situation in Teilen Asiens. Fragen an Ulrike Hahnemann Alphabetisierungsexpertin am UNESCO-Instituts in Hamburg.

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Alphabetisierungskampagne in Iran (Foto: Literacy Movement Organisation of Iran)
Alphabetisierung in IranBild: Literacy Movement Organisation of Iran

DW-WORLD.DE: Mehr als die Hälfte aller Analphabeten lebt in nur vier Ländern: Indien, China, Pakistan und Bangladesch. Was sind denn konkret die Gründe, dass es gerade in diesen Ländern Asiens so viele Analphabeten gibt?

Ulrike Hahnemann: Der zentrale Grund ist, dass alle vier Länder zu den bevölkerungsreichsten Ländern der Welt gehören, so dass schon durch die Masse der Bevölkerung die Zahlen hoch gehen. Und natürlich sind Bangladesch, Pakistan und Indien Länder, in denen es sehr viele Arme gibt. Und Analphabetismus betrifft strukturell vor allem arme Menschen.

Weil sie das Schulgeld nicht bezahlen können?

Es liegt daran, dass sie in ländlichen Gegenden leben, wo es keine Schule in der Nähe gibt, also die Wege für kleine Kinder zu weit sind. Oder daran, dass die Kinder mithelfen müssen, im Haushalt, in der Landwirtschaft und beim Erwerb des Familieneinkommens. Und auch daran, dass viele Familien die Schulsachen oder die Schuluniform nicht bezahlen können.

Was gibt es denn für Ansätze? Wie könnte man das ändern?

In Indien, Pakistan und Bangladesch, dort ist die Situation etwas anders als in China, müssten Schulen zumindest für die ersten vier Klassen in jedem kleinen Ort eingerichtet werden - und wenn es nur eine Einklassen-Schule ist. Für die Kinder ist es wichtig, dass eine Schule in erreichbarer Nähe ist. Die Erwachsenen müssten gleichzeitig auch Angebote bekommen, um wenigstens Grundzüge der Alphabetisierung und Grundbildung zu erlernen, damit für sie auch der Sinn und die Wichtigkeit von Bildung für ihre Kinder erschließbar wird. Und vor allem müssen die Politiker erkennen, dass es sehr wichtig ist, in Bildung zu investieren.

Sie sprechen viel von müsste, könnte und sollte. Das heißt, es passiert noch nicht wirklich. Die Regierungen in den Ländern tun noch nicht genug?

China möchte ich da gerne ausnehmen. In China ist inzwischen fast einen hundertprozentige Einschulungsrate von allen Kindern erreicht. Aber in Pakistan, in Bangladesch und auch in Indien werden viele Kindern niemals eine Schule von innen sehen. Eben aus dem Hauptgrund, den ich genannt habe: strukturelle Armut, aber auch weil die vorhandenen Bildungschancen nicht vor Ort sind oder auch nicht als relevant angesehen werden.

Eine Schule im indischen Jammu. Das Bild entstand am 8. September 2010, dem Weltalphabetisierungstag (Foto: AP)
Eine Schule im indischen Jammu. Das Bild entstand am 8. September 2010, dem WeltalphabetisierungstagBild: AP

Insgesamt sind ja laut Statistik Frauen und Mädchen besonders von Analphabetismus besonders stark betroffen. Zwei Drittel aller Analphabeten weltweit sind weiblich. Wie sieht es da in Süd- und Westasien aus?

Die größte Lücke zwischen den Geschlechtern gibt es in Südasien. Da sind im Schnitt 73 Prozent der Männer, aber nur 41 Prozent der Frauen alphabetisiert. Das ist eine Lücke von 32 Prozentpunkten, was sehr viel höher ist als in Afrika und wesentlich höher als in Lateinamerika. In Indien und Pakistan sind doppelt so viele Frauen wie Männer Analphabetinnen.

Hängt das mit ihrer gesellschaftlichen Stellung zusammen?

Ja, ganz eindeutig. Die gesellschaftliche Stellung ist sehr viel niedriger, vor allem in Indien und Pakistan. Das gilt nicht für Bangladesch. Dazu kommt aber die Armut, die Armut trifft Frauen am stärksten. Das wissen wir aus vielen statistischen Erhebungen. Hinzu kommen dann strukturelle Barrieren, dass Angebote zum Lernen zu ungünstigen Zeiten stattfinden, dass keine Kinderbetreuung da ist, die fehlende Mobilität von Frauen. Oder dass viele Lehrer Männer sind, was kulturell nicht akzeptabel ist für viele Frauen aus Familien mit traditionellen Hintergründen. Und dann gibt es soziokulturelle Faktoren, etwa dass viele Männer es nicht unterstützen, dass Frauen oder Töchter an Schule oder Erwachsenenbildungskursen teilnehmen.

Vor zehn Jahren wurde auf dem Weltbildungsforum in Dakar beschlossen, bis 2015 die Alphabetisierungsrate bei den Erwachsenen zu erhöhen. Mehr als die Hälfte der Zeit ist jetzt verstrichen. Wie realistisch ist es, dass dieses Ziel erreicht wird?

Eine Reihe von Ländern hat das Ziel schon erreicht. Aber andere Länder werden das Ziel nicht erreichen, wenn sie im gleichen, langsamen Rhythmus wie bisher Fortschritte machen, langsam vor allem durch den Bevölkerungszuwachs. Pakistan und Bangladesch gehören ganz sicher zu diesen Ländern. Indien hat vermutlich nicht genug Zeit, es zu schaffen. Da leben immerhin geschätzte 270 Millionen Erwachsene, die nicht lesen und schreiben können. Und in China sind es 71 Millionen Menschen - gerade diejenigen, die am schwierigsten zu erreichen sind. Zumeist sind es Angehörige ethnische Minderheiten, die in den Bergregionen leben und älteren Menschen, die sich schwer tun, die chinesische Schriftsprache zu erlernen.

Das Gespräch führte Marlis Schaum

Redaktion: Sven Töniges