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Parents Circle - Versöhnen statt vergelten

28. Juni 2010

Sein Bruder wurde von einem israelischen Soldaten exekutiert, ihr Sohn von einem palästinensischen Scharfschützen ermordet. Dennoch kämpfen Ali Abu Awwad und Robi Damelin gemeinsam für Frieden und Verständigung.

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Ali Abu Awwad und Robi Damelin vom "Parents Circle". Das außergewöhnliche Projekt tritt für Dialog und Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern ein. (Foto: DW)
Ali Abu Awwad und Robi Damelin vom "Parents Circle"Bild: DW

Ihre Freundschaft begann mit einer Tragödie: Im November 2000 wurde der Bruder des Palästinensers Ali Abu Awwad an einem Checkpoint nahe seines Heimatortes Beit Ummar bei Hebron von einem israelischen Soldaten aus nächster Nähe exekutiert. Youssef Abu Awwad, 31 Jahre alt, verheiratet, Vater zweier Kinder, hatte einen Streit schlichten wollen, doch eine Auseinandersetzung zwischen ihm und einem der wachhabenden Soldaten war entflammt, an dessen Ende der Soldat schließlich abdrückte. "Du kannst mich nicht erschießen, ich habe nichts getan", sollen Youssefs letzte Worte gewesen sein.

Frieden und Versöhnung

Im März 2002 wurde der israelische Soldat David Damelin, 28 Jahre alt, Student der Philosophie, während seines Reservedienstes von einem palästinensischen Scharfschützen aus dem Hinterhalt erschossen. David war Teil der Friedensbewegung, er war gegen die Besatzung und hatte mit sich gerungen, ob er der Einberufung Folge leisten solle. Um seine Kameraden nicht im Stich zu lassen und um ein Vorbild zu sein, folgte er schließlich dem Befehl.

Ali Abu Awwad und Robi Damelin (Foto: DW)
Auszeichnung in Deutschland: "Parents Circle"Bild: DW

Ali Abu Awwad und Robi Damelin – eigentlich hätten sie Grund, einander zu hassen, könnten vor dem Hintergrund ihres eigenen Schicksals zumindest auf Verständnis stoßen, würden sie auf Vergeltung gegen Israel respektive gegen die Palästinenser pochen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Beide fordern Frieden und Versöhnung. "Wie viele Israelis soll ich denn töten? Wird das meinen Bruder zurückbringen? Wird es mich glücklicher machen?" fragt Ali Abu Awwad. "Niemand darf im Namen meines Sohnes getötet werden", waren eine der ersten Äußerungen Robi Damelins, nachdem sie vom Tod ihres Kindes erfahren hatte.

Weiteres Leid verhindern

Eine Haltung, die von der Mehrheit der israelischen beziehungsweise der palästinensischen Seite nicht vertreten wird – gerade vor dem Hintergrund eines solchen Schicksals fordert der Großteil Vergeltung. Für Ali Abu Awwad und Robi Damelin sowie für inzwischen über 500 israelische und palästinensische Familien aber ist diese Haltung die einzig mögliche Reaktion, um weiteres Leid zu verhindern und um eine Zukunft für künftige Generationen zu schaffen. Sie alle haben ein nahes Familienmitglied durch den Konflikt verloren und setzen sich für Frieden und Verständigung ein, als Teil des "Parents Circle".

Schmerz teilen

Yitzhak Frankenthal, orthodoxer Jude mit Wurzeln in Frankfurt, hatte die Gruppe 1994 gegründet, nachdem sein Sohn Arik von der Hamas gekidnappt und ermordet worden war. Frankenthal war ein Unterstützer und Vertrauter Yitzhak Rabins. Er begleitete ihn nach Oslo, zu einer Zeit, als noch von einem Friedensprozess die Rede war – anders als heute. "Es ist fast so, als ob wir auf zwei verschiedenen Planeten leben. Es gibt kaum Kontakt zwischen Israelis und Palästinensern. Stattdessen negieren beide Seiten die Existenz des jeweils Anderen", beschreibt Robi Damelin den Zustand. Dem gegenüber setzt der "Parents Circle" auf den Dialog, das intensive Kennenlernen der anderen Seite mit ihrer Geschichte.

Als sie in die Augen der palästinensischen Mütter geschaut habe, habe sie begriffen, dass diese ihren Schmerz teilen, beschreibt Robi Damelin ihre erste Begegnung mit der Gruppe. Zudem habe sie erfahren, dass das Teilen von Leid ein hilfreiches Werkzeug auf dem Weg zur Versöhnung sei. "Wir wussten, was der andere fühlt", beschreibt sie die Situation. Dadurch sei etwas entstanden, was in der Region grundsätzlich fehle: Vertrauen. Das und die Bereitschaft, den Anderen anzuerkennen und seine Geschichte kennen zu lernen, bilden die Grundlage der Versöhnungsarbeit.

Auf Augenhöhe

Der Checkpoint Kalandia (Foto: DW)
Viele Checkpoints machen das Reisen in den Palästinensergebieten zu einem AlbtraumBild: DW / Bettina Marx

"Mein Bruder wurde nicht aus persönlichen Motiven getötet. Er war ein Vertreter der Nation, die dieser Soldat als seinen Feind ansah. Ich möchte diese Denkweise durchbrechen", sagt Ali Abu Awwad. Und setzt dagegen den direkten Kontakt und die Kommunikation. Um ihr Anliegen und ihre Geschichten publik zu machen, sprechen Mitglieder der Gruppe pro Jahr vor Tausenden Schülern in Klassenzimmern oder anderen Gruppen – in Israel und in der Westjordanland. Für die Zuhörer ist es meist das erste Mal, dass sie dem vermeintlichen Feind auf einer Augenhöhe begegnen und seine Geschichte, das persönliche Antlitz des Konfliktes, kennenlernen.

"Wissen ist der Anfang," sagt Robi Damelin und zitiert damit ein Projekt, in dem israelische und palästinensische Gruppenmitglieder einander über mehrere Monate hinweg ihre persönlichen Biographien geschildert haben. Geschichten, die vom Holocaust und der jüdischen Diaspora handeln ebenso wie solche, die von der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser, und den Folgen der israelischen Besatzung erzählen. Sie habe gelernt, dass Palästinenser und Israelis viel verbinde, sagt Robi Damelin. Gemeinsam besuchte die Gruppe die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und tags darauf ein heute israelisches Dorf, aus dem seine palästinensischen Bewohner 1948 vertrieben worden waren.

Die Angst als Feind

Es gehe nicht darum, Leid zu vergleichen, sagt Robi Damelin, aber: "Wenn du den Holocaust nicht begreifst, verstehst du die Angst der Israelis nicht." Diese Angst sei der größte Feind der Palästinenser, fügt Ali Abu Awwad hinzu. Er macht genau diese Angst mitverantwortlich für die Härte der israelischen Militärbesatzung unter der er bis heute zu leiden hat. Sein Ringen um Versöhnung bedeutet für ihn auch, mit täglichen Demütigungen zu Recht zu kommen: Mit Checkpoints, Häuserzerstörungen, dem Angriff israelischen Militärs auf Schulen. "Versöhnungsarbeit heißt nicht, recht zu haben, sagt er. Es bedeute auch nicht, dass der Schmerz um den Verlust seines toten Bruder ein Ende nähme. Es mache nichts leichter. Aber, so ergänzt er, es sei die einzige Möglichkeit, den Kindern seines getöteten Bruders eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Wütende Reaktionen

Auch für Robi Damelin sind durch ihre Arbeit mit dem "Parents Circle" die Probleme und der Schmerz nicht weniger geworden. Sie stellt sich Diskussionen und den Argumenten pro-israelischer sowie pro-palästinensischer Seite und bemüht sich, Brücken zu schaffen. Häufig erhält sie wütende E-Mails beider Seiten. "Wenn beide Extreme gegen uns agieren, dann müssen wir wohl etwas richtig machen", sagt sie und lächelt. Und dann fügt sie sehr ernst hinzu: "Aber wenn wir es vor dem Hintergrund unserer persönlichen Geschichten schaffen, miteinander zu reden, dann sollten das auch andere fertig bringen."

Autorin: Kai Adler

Redaktion: Stephanie Gebert

Für ihre Arbeit hat das Projekt "Parents Circle" bereits viele Auszeichnungen und Ehrungen erhalten. Am Montag (28.06.2010) bekommen sie eine weitere Anerkennung: Im Französischen Dom in Berlin wird ihnen Angela Merkel die "Goldene Medaille für Versöhnung und Verständigung zwischen den Völkern" überreichen.