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Parlamentswahlen in Tschetschenien: Hoffen auf alternative Kandidaten

24. November 2005

Am Sonntag (27.11.) soll in Tschetschenien ein neues Parlament gewählt werden. Während man in Moskau die Wahlen als Fortschritt versteht, halten Kritiker die Lage für zu labil für eine freie politische Meinungsäußerung.

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Tschetschenischer Präsident Alu Alchanow - er sieht in den Wahlen ein Zeichen für politische StabilitätBild: dpa

Die Parlamentswahlen in Tschetschenien sollen ein Abschluss sein. In Moskau sieht man sie als letzte Stufe eines politischen Prozesses - nach dem Verfassungsreferendum und den letzten Präsidentschaftswahlen wird die Kaukasusrepublik nun eine neue Volksvertretung bekommen.

Ein Hauch von Aufbruchstimmung?

Bisher gab es in Tschetschenien kein nach demokratischen Prinzipien gewähltes Parlament mehr, sondern nur einen so genannten Staatsrat. Dessen Mitglieder wurden ernannt, nicht gewählt. Mit dem neuen Parlament verbinden viele Tschetschenen auch die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage in der kriegszerstörten Republik. Ljoma Turpalow ist Redakteur bei der Zeitung "Grosnenskij rabotschij" ("Arbeiter von Grosny"). Ihn überrascht das starke Interesse an den bevorstehenden Wahlen: "Nach zwei Präsidentschaftswahlen, bei denen es praktisch keine Wahl gab, hatte man mit Apathie gerechnet. Aber jetzt ist Bewegung in der Bevölkerung und das nach Jahren der Gesetzlosigkeit in der Republik, auch unter den Bedingungen der russischen Staatsmacht. Jetzt hofft man, dass das Parlament als einer der Machtzweige demokratischer als die Exekutive sein wird und für Ordnung sorgen wird."

Opposition erlaubt?

Diese Hoffnung könnte berechtigt sein, denn neben Vertretern der etablierten russischen Parteien - allen voran der Kreml-Partei "Einiges Russland" - sind zum ersten Mal alternative Kandidaten zugelassen, etwa der bekannte ehemalige Feldkommandant Magomed Chanbijew. Kritiker fürchten zwar, dass sie lediglich als "Vorzeigekandidaten" missbraucht werden. Doch für Andreas Gross, den Berichterstatter des Europarates zu Tschetschenien, ist die Kandidatur solcher Leute eine positive Entwicklung: "Das ist eben das Interessante an dieser so genannten Wahl: dass zum ersten Mal, wie ich den Eindruck habe, auch Gruppierungen und Menschen kandidieren, die so etwas bilden wie eine Brücke zwischen den verfeindeten Lagern. Mein großes Interesse liegt darin zu schauen, was mit denen passiert, wie die abschneiden, was die mir dann nachher sagen."

Zweifel

Wie gut die Chancen alternativer Kandidaten wirklich sind, ist umstritten. Bei bisherigen Abstimmungen hatte es immer Mehrheiten im neunzigprozentigen Bereich und verdächtig hohe Wahlbeteiligungen gegeben. Stets siegte ein Kreml-treuer Kandidat. Und auch jetzt verbreiten die Nachrichtenagenturen bereits optimistische Einschätzungen des tschetschenischen zentralen Wahlkomitees: Man rechne mit einer hohen Wahlbeteiligung und sei sicher, dass die Wahlen erfolgreich verlaufen werden. Beobachter im In- und Ausland sind da nicht so sicher. Tschetschenische Menschenrechtler berichten von Fällen, in denen Parlamentssitze gegen Gefälligkeiten oder hohe Geldsummen angeboten wurden. Auch Redakteur Turpalow ist skeptisch: "Man kann schwer sagen, ob das Parlament die Meinung der ganzen Gesellschaft widerspiegeln wird. Tschetschenien gehört zu Russland, wo es russische Gesetze, ein russisches Parlament, die russische Justiz gibt. Die Gesetze werden von Tschetschenien nicht vollständig eingehalten. Das ist nicht nur in Russland, sondern weltweit bekannt. Aber niemand reagiert darauf. Ich denke, dass sich die Gesetzlosigkeit in der Republik unter dem neuen Parlament nicht wesentlich ändern wird."

Neue Gesprächspartner in Sicht?

Die Hoffnung auf positive Veränderungen in Tschetschenien haben viele Menschenrechtler und Nichtregierungsorganisationen noch nicht aufgegeben. Auch westliche Organisationen wie der Europarat suchen weiter nach Lösungen, zum Beispiel mit Initiativen wie dem Runden Tisch. Im März dieses Jahres hatten sich Vertreter der russischen und tschetschenischen Seite zum ersten Mal mit Mitgliedern des Europarats zu Gesprächen getroffen. Europarats-Berichterstatter Gross hofft nach den Wahlen auf neue Ansprechpartner - und hat dabei vor allem die alternativen Kandidaten als Vermittler im Blick: "Wenn Menschen, die diese Brücke bilden möchten, wenn auch nur ganz wenige von diesen Leuten wirklich dort sind und auch die Möglichkeit haben, zu ihrer Überzeugung zu stehen und in diesem Sinne parlamentarisch-politisch tätig zu werden, dann wird das die Idee des Runden Tisches stärken. Es geht ja beim Runden Tisch auch darum, dass endlich Leute miteinander zu sprechen beginnen, die vorher nur aufeinander geschossen haben oder böse über einander gesprochen haben. Und in diesem Sinne ist jeder Millimeter Fortschritt, hilft und erweitert das kommende Spektrum."

Fortschritte in Tschetschenien sind nach Meinung der kremltreuen Regierung längst erreicht. So bezeichnete der tschetschenische Präsident Alu Alchanow die bevorstehenden Wahlen als "Zeichen für eine gewisse politische Stabilität". Trotzdem werden am Sonntag mehr als 24.000 Sicherheitskräfte im Einsatz sein.

Britta Kleymann
DW-RADIO, 24.11.2005, Fokus Ost-Südost